Naturethischer Irrweg: Wenn Linke rechts abbiegen

Im dritten Pandemiejahr, und die nächsten fünf bis zehn Jahre ebenso, wird die gesellschaftliche Auseinandersetzung um Covid-19, das inzwischen nur noch verharmlosend „Omikron“ genannt wird, weiterhin zwischen der offiziellen Diktion und den Querdenkern ausgetragen werden. Dabei handelt es sich zum Einen um eine von neoliberalem Controlling-Geist geprägte Krisenverwaltungsstrategie und zum Anderen um naturethische Kraftmeierei, die im Prinzip nichts anderes als Sozialdarwinismus ist.

„Naturethik“ ist ein mehrdeutiger Begriff. Im Folgenden geht es nicht um die Ethik, die unseren Umgang mit der Natur betrifft. Diese Naturethik ist dringend nötig. Stattdessen geht es darum, dass vermeintliches Naturrecht nicht über unser Leben und Handeln bestimmen sollte. Diese Naturethik ist nämlich obsolet.

Die offizielle Eindämmungsstrategie versucht das Pandemiegeschehen durch halbherzige Maßnahmen nur soweit zu deckeln, dass die Krankenhaus-Kapazitäten nicht überschritten werden. Wenn dabei Zigtausend – und weltweit Millionen – sterben, dann wird es als unumgänglich bezeichnet. Die ethische Fragwürdigkeit dieses Ansatzes wird ignoriert. Zugleich führt diese systematische Inkonsequenz dazu, dass die Pandemie nicht beendet werden kann, so dass freiheitseinschränkende Maßnahmen viel länger als nötig verhängt werden. Und letztlich wird die Pandemie nur durch einen sprachlichen Zaubertrick zum Verschwinden gebracht, indem sie irgendwann zur Endemie – und die Krise damit zum Normalzustand – erklärt wird. Das sind Worte statt Taten. Die Krankheit wird nicht ausgerottet, und sie darf der Pharmaindustrie ewig Gewinne bescheren.

Die laute Alternative dazu ist die Durchseuchungsstrategie der sowohl selbsternannten als auch diffamierend sogenannten „Querdenker“, die sich aus Vertreter*innen praktisch aller gesellschaftlichen Gruppen zusammensetzt. Ideologische Grundlage ist dabei die Natürlichkeit von Krankheiten, die schicksalhafte Ergebenheit (Fatalismus) in diese scheinbar unabänderliche Natürlichkeit, der Verweis darauf, wie es schon immer war (Traditionsargument), die Stärke und Leistungsfähigkeit des eigenen Immunsystems und die natürliche Auslese Alter, Schwacher und Kranker (passiver Sozialdarwinismus). Für das bürgerliche und rechte Lager ist eine solche protofaschistische Denkweise nicht verwunderlich, stehen sie ihr doch ideologisch nahe und ist der Kapitalismus nichts anderes als wirtschaftliches und gesellschaftliches Survival of the Fittest.

Aber wie spielend leicht große Teile der Linken auf diese schiefe Bahn gekommen sind, und vehement darauf beharren, dass rücksichtslose Freiheit auf Teufel komm raus die einzig richtige Alternative sei, scheint nur damit erklärbar zu sein, dass an Schulen nicht gelehrt wird, dass Naturethik und Naturrecht bereits während des Zeitalters der Aufklärung ihre prinzipielle Berechtigung verloren haben. Seitdem geistert sie aber noch als untote Philosophie durch die Köpfe von philosophisch Ungebildeten, prominent auch auf einer dezidiert unphilosophischen Webseite, die sich jedoch pikanterweise Nachdenkseiten nennt.

Nachdenken, ohne das Nachdenken gelernt zu haben (das hätte idealerweise ein Studium der Philosophie erfordert), ist wie ein Haus zu bauen, ohne das Hausbauen gelernt zu haben. Es wird krumm, schief und wackelt. Im Vor-Pandemie-Sinn waren Querdenker solche, die in ihrer Disziplin gerade denken konnten, und die erst danach vernünftige, kreative und synergistische Querverbindungen zu anderen Disziplinen gezogen haben. Nur weil man enttäuscht und unzufrieden ist, und deswegen die herrschende Meinung ablehnt, hat man nicht automatisch Weisheit, Vernunft und die bestmögliche Alternative in den Kopf gezaubert bekommen.

Am Einfachsten ist es, sich die naturethische Widersprüchlichkeit an ein paar Beispielen klarzumachen:

  • Wie gehen wir für gewöhnlich mit Alten, Kranken oder auch Behinderten um? Versorgen wir sie, oder überlassen wir sie ihrem natürlichen „Schicksal“?
  • Was haben wir mit gefährlichen Krankheiten wie Kinderlähmung, Keuchhusten, Masern und den Pocken gemacht? Impfen wir dagegen und rotten sie dadurch idealerweise aus, oder hoffen wir auf die natürlichen Fitness-Chancen von uns und unseren Kindern?
  • Wie konsequent leben wir Menschen im 21. Jahrhundert, wenn wir in praktisch allen Lebensbereichen Technologie und ihre Resultate nutzen (von der freien Natur abgegrenzte Wohnung, moderne Arbeitswelt, Warenangebot, weltweite Mobilität und Kommunikation), aber ausgerechnet wenn es um Leben oder Tod geht, plötzlich wieder eine Vorliebe für die Steinzeit entwickeln?
  • Gilt in unserem Rechtssystem das natürliche Willkürrecht des Stärkeren oder die große Zivilisationsleistung (teilweise leider auch noch -aufgabe) des gleichen Rechts für alle? Nicht, was die Natur uns (vermeintlich) vorgibt, sondern was wir uns selbst vorgeben wollen, ist unser Maßstab. Tiere folgen ihrer Natur, wir folgen (idealerweise) Vernunftgründen.
  • Wollen wir vermeintliche Anforderungen der Natur in Form der Unterordnung der Frau unter den Vorrang des Mannes, einer angeblichen Rasse unter die andere, eines Stärkeren als Herrn und eines Schwächeren als dessen Sklaven gutheißen, oder verdient eine solche rückwärtsgewandte Naturethik nichts anderes als nur unsere Ablehnung?
  • Lassen wir uns denn bereitwillig töten, wenn eine Naturkatastrophe herein- oder ein Löwe ausbricht? Wieso gehorchen wir in solchen Fällen der Vernunft und sorgen uns um das Überleben von uns und unseren Mitmenschen? Wieso sollte das anders sein, wenn die natürliche Bedrohung nur nanometergroß und mit dem bloßen Auge nicht sichtbar ist?
  • Was ist überhaupt „natürlich“ für ein Lebewesen, dass dazu fähig ist, nahezu beliebige Werkzeuge zur Herstellung immer speziellerer Werkzeuge zu entwickeln und das mit der Entdeckung der Naturgesetze, der Gestaltung der Welt und der Kultivierung seiner Eigenschaften zeigt, dass es mehr ist als nur passives Objekt natürlicher Abläufe, nämlich ein zu Objektivierung und zu Zivilisation fähiges Subjekt? Wieso sollte man, wenn man dazu fähig ist, natürlichen Widrigkeiten und Gefahren zu trotzen, diese Kompetenz über Bord werfen, sobald eine neue Krankheit auftaucht?

Bis auf den rechten Rand war die Naturethik bis Anfang 2020 gesellschaftlich nicht opportun. Seitdem ist sie es auch nicht geworden. Sie wird nur unter dem Deckmantel der beschönigend so genannten „Eindämmungsstrategie“ hingenommen, ohne ihrem Wesen nach als unethisch erkannt zu werden. Nur die libertären Durchseuchungs-Befürworter aka Querdenker werden abgelehnt, weil bei ihnen die sozialdarwinistische Skrupellosigkeit offen zu sehen ist. Sie haben von links massiv Verstärkung erhalten. Wenn AfDler Gewerkschaften gründen, warum sollten Linke dann nicht auch das Überleben der Gesunden und Starken propagieren dürfen?

Diese seltsame, intellektuelle Widersprüchlichkeit hat leider auch Kuba befallen. Dieser Fall – und diese Falle – von kognitiver Dissonanz hat der humanistischen und sozialistischen Revolution die mit Abstand größte Niederlage in ihrem über 60-jährigen Kampf gegen die Naturgewalten beschert, einem Kampf, den sie sonst erfolgreich und weltweit vorbildlich kämpft, indem sie durch effektive Katastrophenschutz-Maßnahmen die Opferzahl bei Hurrikanen meist bei Null hält und vermutlich die weltbeste allgemeine Gesundheitsversorgung hat. Kuba hat doppelt so viele Ärzte pro Kopf wie Deutschland und drei Mal so viele wie die USA.

Fidel Castro hatte die kubanische Revolution so charakterisiert, dass sie den Verlauf der Geschichte (vom benachbarten Imperium unabhängig zu sein) und der Natur (kein Tod mehr durch Krankheit und Naturgewalten) verändern werde. Das hat sie bisher geschafft. Aber bei Covid-19 war Kuba blind, obwohl eine Pandemie eine Krankheit und Naturkatastrophe zugleich ist! Kuba hat fatalerweise die Eindämmungsstrategie verfolgt, wenn auch mit dem letztendlichen Ziel, Covid-19 durch die Impfkampagne auszurotten, aber dennoch hat es gewaltig versagt.

Über 8.000 Covid-Tote auf Kuba mögen zwar wenig im Vergleich zu noch größeren Verlierern sein, aber die vier anderen kommunistischen Länder Nordkorea, China, Laos und Vietnam waren mit ihrem Zero-Covid-Ansatz erfolgreicher. Doch auch bei ihnen ist die seuchenhygienische Konsequenz eher nur der Überlegung geschuldet, dass deren Gesundheitssysteme zu schwach für eine Pandemie seien, anstatt der Überlegung, dass man jedes Menschenleben vor der neuen Krankheit schützen sollte. Letzteres wäre kongruent und konsistent mit dem Humanismus Fidels gewesen. Aber zumindest hat ihr anders motiviertes Handeln ein ähnliches Resultat.

Die Überschätzung der Fähigkeiten von innerem Immunsystem oder äußerem Gesundheitssystem eint sowohl Eindämmungs- als auch Durchseuchungs-Befürworter. Diese Arroganz, zu der die Ideologie eigener Stärke verführt, blendet sie so sehr, dass sie die durch Krankheit oder Impfung Versehrten und Toten nicht sehen, die ihre jeweiligen Strategien zwangsläufig mit sich bringen.

Mit einem Zero-Covid-Ansatz hätte die Pandemie im Frühjahr 2020 beendet werden können mit einem absoluten Minimum an Kranken, Toten, finanziellen Pandemiekosten und temporären Freiheitsbeschränkungen. Die ansonsten ja durchaus linken Nachdenkseiten hassen den Zero-Covid-Ansatz und verunglimpfen ihn als reinen Faschismus. Dass diese seuchenhygienische Zweckdiktatur bei erfolgreicher Anwendung schnell wieder verschwindet, weil die Krankheit verschwindet, wird dabei geflissentlich ignoriert. Die neuseeländische Regierungspartei war für ihren Zero-Covid-Pandemieerfolg im Oktober 2020 von der Wählerschaft mit dem besten Wahlergebnis seit 1946 belohnt worden. Ist das Faschismus pur? Nur bei wahnhaftem Realitätsverlust.

Fakt bleibt, es gibt zwei schlechte und ein gutes Rezept gegen Pandemien. Leider kennt die öffentliche Wahrnehmung nur die beiden schlechten, weil sie nicht willens und unfähig zur Problemlösung und Krisenbeendigung ist. Das kennen wir hier aus allen Bereichen. Schlecht verwalten statt effektiv gestalten. In China ist das anders. Dort werden Probleme und Krisen nicht wegdiskutiert, sondern durch Planung, Arbeit und Disziplin gelöst und beendet. Alles andere kann und will man sich dort nicht leisten. Wir uns aber schon? Dass wir es uns auch nicht leisten können – diese Blindheit nennt man gemeinhin Dekadenz. Sie begründet und beschreibt den Niedergang von Kulturen und Zivilisationen. In unserem Fall der unsrigen.


Update, 25.12.2022: Zum Weiterlesen ein Weihnachtsartikel auf Legal Tribune Online: Naturrechtslehre – Wie man Normen aus dem Hut zau­bert