Die Kriminalisierung der Letzten Generation

Nachdem die Klimaschützer der „Letzten Generation“ (das meint: vor dem Erreichen der Kipppunkte des Weltklimas) vor allem durch ihre Straßenblockaden von sich reden machten und sich „Volkszorn“, Medienhetze und Politikerwut über sie ergoss, war am 24.05.2023 eine Großrazzia gegen sie erfolgt, um sie als politisch Verfolgte einer politischen Justiz zuzuführen.

Verfassungsfeinde am Werk

Federführend waren das bayerische Landeskriminalamt (LKA) und die Generalstaatsanwaltschaft München, die aufgrund vieler Strafanzeigen aus der Bevölkerung tätig wurden. Mit den Hausdurchsuchungen verstieß sie aber gegen das Grundrecht auf Vereinsfreiheit gemäß Art. 9 GG.

Sie hatten auch die Website der Letzten Generation beschlagnahmt, sie einem vorverurteilenden Defacement unterzogen – und sich dabei selbst entblößt als voreingenommene Ankläger, Vollstrecker und Richter in Einem.

Wo blieb da das Recht auf einen fairen Prozess (Art. 6 EMRK), wo die Gewaltenteilung (Art. 20 Absatz 2 GG)? Darüber hinaus bedrohten (§ 241 StGB – Bedrohung) sie Spender und Unterstützer der Letzten Generation der strafbaren Mittäterschaft. Nicht zuletzt war die Beschlagnahmung der Website auch ein Eingriff in das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG).

Die Letzte Generation hat ihre Website unter einer neuen Domain wieder online gestellt: letztegeneration.org, also .org statt bisher .de.

Die beschuldigten Warner vor der Klimakatastrophe, die bei ihren Störaktionen niemals tätlich gegen andere Menschen geworden waren, wurden wie bewaffnete Verbrecher mit vorgehaltenen Schusswaffen in ihren Wohnungen von 170 Polizisten gestellt.

Zurecht fragen sie sich, wann die Polizei Razzien gegen die Lobbystrukturen durchführen und das Geld für fossile Brennstoffe der Regierung beschlagnahmen wird? Aber das wird sie nicht tun, weil sie nicht den Menschen dient, sondern dem Machtgefüge.

Der Sprecher von UN-Generalsekretär António Guterres, Stephane Dujarric, sprach sich angesichts der bundesweiten Razzien für den Schutz von Klimaaktivisten aus. Auch amnesty international kritisierte die Polizeiaktionen.

Straftaten oder Notstandshandlungen?

Legitimiert sahen sich die Volkszorn-Häscher durch § 129 StGB. Aber das ist nichts anderes als politische Justiz, die unliebsame Handlungen als Straftaten deklariert, um von den eigenen Verbrechen abzulenken.

§ 129 StGB, das Verbot der Bildung krimineller Vereinigungen, hat klassisch die Mafia als Vorbild. Straftaten sind der Sinn und Zweck einer kriminellen Vereinigung, um auf rechtswidrigem Wege unlautere Ziele zu erreichen. Bei der Letzten Generation sind leichte Notstandshandlungen nur geringstmögliche Mittel zum Zweck, die Regierung zum Klimaschutz gemäß Art 20a GG (Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen) zu drängen.

In einer gerechten und gemeinwohlorientierten Alternativ-Realität stünde darauf weder Strafe noch Schadensersatzanspruch, weil die Aktionen der Letzten Generation dort nach § 34 und 35 StGB (rechtfertigender und entschuldigender Notstand) weder rechtswidrig noch schuldhaft wären. Jedoch wäre in einer solchen Realität der zugrundeliegende Notstand gar nicht erst eingetreten.

Den Interessenkonflikt zwischen Strafgesetzen und Art 20a GG muss die Letzte Generation in ihrer Prozessverteidigung darlegen. Alle Gesetze und Verordnungen in Deutschland müssen im Licht des Grundgesetzes ausgelegt werden. Das ist die Normenhierarchie. Das vergessen Recht-und-Ordnungsfanatiker gerne, weil es nicht zu ihren kasuistischen Vorlieben passt, die von Einzelgesetzen wie dem Strafgesetzbuch bedient werden.

Ein strukturelles Problem liegt leider darin, dass Staatsanwaltschaft und Polizei losstürmen, sobald jemand „StGB“ sagt. Aber sie preschen nicht los, wenn jemand „GG“ sagt, denn sonst hätten sie schon längst die Bundesregierung weggesperrt (dorthin, wo in Nachbarzellen die vorherigen Bundeskabinette ihre restliche Lebenszeit absäßen).

In einem aufsehenerregendem Urteil hatte eine Richterin einen Baumbesetzer freigesprochen, der damit effektiv gegen den Klimawandel gehandelt hatte. Leider war die Richterin noch nicht mutig genug, diesen Klimanotstand auch für „Klima-Kleber“ gelten zu lassen, weil deren Handeln viel mittelbarer war.

Wenn die Handlungen der Letzten Generation nicht als Notstandhandlungen anerkannt werden, dann sollte es zumindest um deren Motivation und die Verhältnismäßigkeit gehen.

Nach § 129 StGB werden Straftaten bestraft, die ein Strafhöchstmaß von zwei oder mehr Jahren Freiheitsstrafe haben. Das ist bei Sachbeschädigung und Nötigung zwar der Fall, aber sämtliche konkreten Taten, die die Letzte Generation begangen hat, verdienen einfach nicht die jeweilige Höchststrafe. Daher wackelt die Beurteilung hier auch schon. Es ist unverhältnismäßig. Nötigung zu Verspätung im Straßenverkehr kann man nicht mit ein paar finsteren Bandidos vergleichen, die jemanden in einem Hinterhof zu etwas nötigen, was wirklich die zwei Jahre oder mehr Höchststrafe verdient hätte.

Erwägenswert könnte ein Strafausschließungsgrund sein, das in § 129 Absatz 3 Punkt 2 StGB benannt wird: „[Die Strafe nach Absatz 1 ist nicht anzuwenden,] wenn die Begehung von Straftaten nur ein Zweck oder eine Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung ist“. Die Letzte Generation handelt weder aus typischerweise kriminellen Motiven noch hat sie ebensolche Ziele, und ihre Taten sind charakterisiert durch kleinstmögliche Einwirkung mit größtmöglichem medialen Effekt, um das eigentliche Ziel des Klimaschutzes zu befördern. Würde die Politik tatsächlich effektiv handeln, würde die letzte Generation sofort ihre als Nötigung empfundenen Aktionen einstellen.

Vereinsfreiheit oder kriminelle Vereinigung?

In § 129 StGB wird nicht nach kriminellen und ehrenwerten Motiven unterschieden, kann aber auch gar nicht, da er von Vornherein nur von kriminellen Vereinigungen handelt. Darum darf man sich hier nicht auf § 129 StGB festnageln lassen, womit die Argumentationsbasis eingeengt würde.

Für die Letzte Generation gilt die Vereinsfreiheit gemäß Art. 9 GG, in dessen Absatz 2 jedoch Folgendes steht: „Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen …, sind verboten.“

Auch hier sollte Augenmaß in welthistorischer Perspektive einsehen, dass die Verhältnismäßigkeit klar zugunsten der Letzten Generation liegt und es sich nicht wirklich um Straftaten handelt, sondern um Notstandshandlungen. Wenn es gilt, eine globale Katastrophenserie zu verhindern, kann mensch schon einmal den Verkehr behindern oder den Farbtopf leeren, um die Lemminge in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zur Umkehr aufzurufen. Freiwillig hören die nämlich ganz offensichtlich nicht damit auf, am Ast zu sägen, auf dem wir alle sitzen.

Politische Verfolgung und Klassenjustiz

Die politische Verfolgung der Letzten Generation wäre schon bei passivem Widerstand und zivilem Ungehorsam zu erwarten gewesen – z.B. als Anzeigen wegen Land- und Hausfriedensbruchs -, aber die Letzte Generation hat auf direkte Aktionen und erste Ansätze von Sabotage gesetzt.

Solidaritätsdemonstrationen für die Letzte Generation sind richtig. Aber sie werden die Klassenjustiz der kapitalistischen BRD nicht davon abhalten, abschreckende Exempel zu statuieren.

Der Regelbetrieb auf der Titanic muss weiterlaufen. Kapitalwerte müssen sicher sein vor den Zukunftserwartungen von Kindern und jungen Menschen. Das ist das Credo der traurigen Realität, gegen das die Letzte Generation kämpft. Der Gang ins Gefängnis adelt die Menschen, die in Diktaturen aufrecht gehen. In der sengenden Zukunft werden sie Held*innen sein.

Unverhältnismäßigkeiten

Autofahrer sind nicht per se böse. Das ist eine weltfremde Fantasie von Ökofanatikern. Die allermeisten Autofahrer*innen sind lohn- und wohnabhängig, sie müssen ihre Kinder zur Schule fahren oder von dort abholen, müssen einkaufen, zum Arzt oder auch nur ihre Notdurft verrichten. Sie haben keine gute Alternative für ihre Mobilität, weil Wirtschaft und Politik die Republik seit Generationen als Autofahrernation führen und deswegen nie einen attraktiven ÖPNV zugelassen hatten.

Normale Menschen zu blockieren, ist politisch verfehlt. Man sollte die wirklichen Entscheider bedrängen, nicht andere Opfer. Sonst schafft man sich nur Feinde, die den Herrschenden als Legitimation für Repressionsmaßnahmen dienen. Eigentlich bräuchte man andere einfache Menschen als Unterstützer, nicht als Gegner. Das ist eine taktische Fehlentscheidung, die die Letzte Generation bis heute nicht eingesehen hat. Nötig sind politische Ziele statt Kollateralschäden.

Auch die Farbattacken auf Kunstwerke sind völlig sachfremd und führen darum nur zu Verärgerung anstatt zu Unterstützung. Greenpeace hat sich in den 1980ern nicht vor Autos gesetzt, sondern hat in spektakulären Aktionen Ölbohrplattformen mit Bannern verziert und hat mit seinen Booten Wale vor Walfängern beschützt. PETA schockiert Tierverbraucher mit Die-ins anstatt Zuschauer mit Kunstblut zu bewerfen.

In echter Greenpeace-Manier hatten zwei Aktivisten von „Just Stop Oil“ in London ein riesiges Banner auf einer Brücke über die Themse aufgespannt. Die Brücke wurde deswegen für 40 Stunden gesperrt. Die Männer wurden drakonisch zu je zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Die Staatsgewalt lässt allerorten ihre Macht spüren.

Das lässt daran denken, dass SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz, der die Aufstandsniederschlagung 2017 bei G20-Gipfel in Hamburg als regierender Oberbürgermeister geübt hatte, mit seiner Diffamierung der Proteste der Letzten Generation als „völlig bekloppt“ noch nicht sein ganzes Repertoire ausgepackt hat. Das kann noch hässlicher werden. Hoffentlich nicht so hässlich wie 1919, als SPD-Reichswehrminister Gustav Noske etwa 1.200 Arbeiter erschießen ließ. Die SPD ist eine Partei mit brutaler Tradition. Verhältnismäßigkeit ist für sie ein Fremdwort, wenn es um Liebesdienste für das Kapital geht.

Die Aktion mit dem Presslufthammer am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe dagegen wäre eine echte Symbolhandlung gegen das fossile Berlin geworden, das den Bohrhammer ans Grundgesetz anlegt. So sehen politische Ziele aus! Dort wäre nur zu befürchten gewesen, dass die Letzte Generation nicht die Deutungsmacht über dieses Straßentheater behalten hätte. Die Gossenpresse hätte das so verdreht, dass die Letzte Generation verfassungsfeindlich sei und ohne jeden Respekt das BVG zerstören wolle.

Energiekonzerne, Börsenplätze und Luxusressorts von Superreichen wären andere echte politische Ziele.

Wenn schon alle staatlichen Gewalten keine Verhältnismäßigkeit üben, dann sollten wünschenswerterweise die ihrer Zukunft beraubten normalen Menschen mit gutem Vorbild vorangehen. Wenn sie dabei ihre Mitmenschen ständig vor den Kopf stoßen, wird die „kritische Masse“ nie erreicht. Dann wird Reden übers Klima nur Streit über fragwürdige Aktionsformen sein.


[ 24.09.2023 ]

Psychiatrisierung statt Kriminalisierung?

Heute hat die Letzte Generation versucht, den Marathon in Berlin zu blockieren. Ist dieses krankhaft stupide Verlangen nach Aufmerksamkeit histrionische Persönlichkeitsstörung oder Münchhausen-Syndrom? Ich weiß es nicht. In jedem Fall ist es blind wütend kontraproduktiv.

Die Letzte Generation hätte mit der Blockade den traditionell von weißen Europäern drangsalierten Afrikaner*innen ihre Erfolge vergrätzt, denn auch wenn Siege sonst rar sind, hier fallen sie immer: Die Äthiopierin Tigst Assefa war heute in Berlin die schnellste Frau und hat einen neuen Weltrekord aufgestellt (2:11:53 Stunden). Der Kenianer Eliud Kipchoge war der schnellste Mann (2:02:42 Stunden), wenn auch ohne neuen Weltrekord.