Linke Identitätspolitik

Wolfgang Thierse legt der SPD-Führung seinen Partei­austritt nahe. Esken und Kühnert hatten sich von ihm wegen seiner Meinung in der Identitäts­politik distanziert. In einem Gastbeitrag für die FAZ hatte der ehemalige Bundestags­präsident die allzu subjektiven Identitäts-Eiferer kritisiert.

Kritische Auseinandersetzung

Wir erleben neue Bilderstürme. … Die subjektive Betroffenheit zählt dabei mehr als der genaue Blick auf die Bedeutungsgeschichte eines Namens, eines Denkmals, einer Person.

Wolfgang Thierse


Die linken Bilderstürmer wollen Geschichte nicht mehr als Prozess anerkennen, sondern entsorgen sie lieber komplett: Wer vor 500 Jahren nicht nahtlos auch in die heutige LGBTIQA+-Community gepasst hätte, wird aus den Annalen der Geschichte radiert. Es gibt nur noch das heute und morgen.

Moderne Anforderungen an historische Personen zu stellen, ist einfach nur anachronistisch. Man kann auch einsehen, dass es heute falsch wäre, so wie diese oder jene historische Person zu schreiben oder zu handeln. Eine solche kritische Auseinandersetzung wäre ein Lernprozess. Und Lernprozesse sind gut! Dafür muss Geschichte jedoch in den Geschichtsbüchern bleiben. Seit Jahren erheben sich schon Stimmen, Platon, Aristoteles, Shakespeare und Kant aus dem universitären Unterricht zu entfernen.

Linke Identitätseiferer haben ihren moralischen Rigorismus mit religiösen Fanatikern gemeinsam: Es darf nur Heilige geben. Sünder müssen Buße tun und umkehren, sonst werden sie aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Alles, was Sünder gesagt und getan haben, ist unrein. Wo Verdammungsurteile gefällt werden, kann es keine differenzierte Kritik und Würdigung mehr geben. Wissenschaft wird zur Dienerin einer Ideologie.

Linkes Denken setzt sich mit objektiven Verhältnissen auseinander und will sie ändern. Daraus sollen objektiv gerechte, solidarische, herrschaftsfreie und friedliche Verhältnisse entstehen, aber kein subjektiver Ponyhof. Das „Ende der Geschichte“, d.h. der geschichtliche Fortschritt hin zur bestmöglichen Gesellschaft, soll die klassenlose Gesellschaft sein. Die darf aber niemals niemals ihre Geschichte vergessen. Sonst wäre auch sie dazu verdammt, sie zu wiederholen.

Streben nach Toleranz

… mehr denn je ethnisch, kulturell, religiös-weltanschaulich pluralen Gesellschaft … Dieses Faktum zu leugnen oder rückgängig machen zu wollen ist das Fatale, ja Gefährliche rechter Identitätspolitik. Es zum Ziel aller sozialen und kulturellen Anstrengungen zu erhöhen, halte ich für das Problematische linker Identitätspolitik. Das Ziel muss vielmehr sein, die akzeptierte Diversität friedlich und produktiv leben zu können.

Wolfgang Thierse


Linke Politik als diversitätserhöhendes Bevölkerungsmanagement ist in der Tat eine kuriose Blüte naiver Kleingeistigkeit. Stattdessen sollte es um eine tolerante Gesellschaft gehen.

Anders zu sein ist kein Wert oder Leistung. Tolerant mit Anderen friedlich zu leben, schon. Linke streben nach Toleranz, idealerweise Akzeptanz und Freundschaft, aber nicht nach mehr Diversität. Denn die gibt es bereits und darf nur nicht diskriminiert werden.

Diversität ist nicht das Ziel, sondern der zu schützende Ausgangspunkt von Politik. Diversität darf nicht als „Migrationswaffe“ missbraucht werden, denn es sind Menschenleben, die davon abhängen. Migration und Flucht sind nicht gut, sondern konflikt- oder elendsgetriebene Notmaßnahmen. Nur freiwillige Freizügigkeit ist gut. Linke Politik strebt globale Bedingungen an, die dies ermöglichen.

Jeder Mensch hat eine Heimat

Heimat und Patriotismus, Nationalkultur und Kulturnation, das sind Begriffe und Realitäten, die wir nicht den Rechten überlassen dürfen.

Wolfgang Thierse


Heimat und Nationalkultur können geliebt werden, dürfen aber nicht dafür missbraucht werden, um andere Menschen, Länder und Kulturen abzuwerten. Patriotismus darf nicht für Kriegspropaganda und Fremdenfeindlichkeit missbraucht werden.

Das liegt sogar im Interesse von „Rechten“, denn diese Begriffe wurden „verbrannt“, weil sie von einer kleinen „Elite“ reicher und mächtiger Menschen für ebensolche Zwecke missbraucht wurden. Unzählige Millionen haben deswegen getötet und wurden deswegen getötet. Normale, einfache Menschen haben in Kriegen nie etwas gewonnen, immer nur verloren.

Legitim sind nur Verteidigungskriege, wenn gegen einen Angreifer keine soziale Verteidigung hilft.

Solidarität statt Abgrenzung

Wie viel Identitätspolitik stärkt die Pluralität einer Gesellschaft, ab wann schlägt sie in Spaltung um?

Wolfgang Thierse


Identität darf nicht zu individuell gefasst werden. Sonst sind wir am Ende alle separierte, miteinander verfeindete Einzel­universen, die nichts mehr miteinander gemein haben.

Identität von links meint eigentlich die Erkenntnis, zu einer Klasse der Ausgebeuteten zu gehören, und sich gemeinsam und solidarisch gegen die transnationale, eigen­profit­orientierte Minderheit der Ausbeuter zu wenden, damit am Ende die vielfältige Weltgemeinschaft friedlich und gemeinwohl­orientiert miteinander leben kann.