Rätsel um das Voynich-Manuskript gelöst

Wer im Juni 2020 aufgepasst hat, wird die Meldung vernommen haben, dass der Schlüssel zur Übersetzung des mysteriösen Voynich-Manuskripts gefunden wurde. Andere, wie ich, erfahren erst später davon. Der Ägyptologe Rainer Hannig hat die verwendete Sprache überzeugend als mittelalterlich-osteuropäisches Hebräisch identifiziert (PDF, ca. 3 MB), das in einer erfundenen Schrift geschrieben ist, und erste kurze Übersetzungsproben vorgestellt. Diese Texte handeln z.B. von einer Krankheitsgeschichte und von jüdischen Lebensweisheiten.

Folio 67r: Astrologische Abbildungen

Das Voynich-Manuskript

Das mit der C14-Methode datierte Voynich-Manuskript entstand wahrscheinlich zwischen 1404 und 1438. Unterschiede in der Handschrift weisen auf mehrere Schreiber hin, möglicherweise bis zu sieben. Trotz der zahlreichen floralen und astrologischen Abbildungen hatte zuvor niemand die unbekannte Schrift übersetzen und darum den Inhalt der Texte erkennen können. Das hat Rainer Hannig nun geändert.

Folio 88v und 89r: Naturheilkunde

Die Schrift des Voynich-Manuskriptes

Die verwendete Schrift ist von den Autoren erfunden worden. Neben ein paar lateinischen und arabischen Zeichen gibt es viele unbekannte, also neu erfundene Zeichen. Die Schrift ist nicht verschlüsselt, d.h. sie kann als natürliche Sprache gelesen werden, sobald Alphabet und Grammatik erkennbar werden. Ein paar Zeichen sind noch nicht übersetzbar. Das ist aber kein Problem, denn ein Ägyptologe darf die Hebraisten schließlich nicht brotlos machen.

Dass es sich um aschkenasisches Hebräisch handelt, wird aus folgenden Hinweisen deutlich:

  1. Der Wechsel von Konsonanten und Vokalen sowie die Wort-Wurzelstruktur aus drei Konsonanten folgt typisch semitischen Mustern.
  2. Die Kürze der Wörter ist ebenfalls typisch für die semitische Sprachfamilie.
  3. Die Abbildungen von Burgen, Türmen, Kleidung und Tierkreiszeichen muten europäisch an, so dass es sich um eine semitische Sprache in Europa handeln müsste, also Arabisch, Hebräisch oder Aramäisch.
  4. Weil der arabische Artikel „el“/“al“ fehlt, und weil Aramäisch nur im Zusammenhang mit Hebräisch verwendet wurde, kommt praktisch nur Hebräisch in Frage.
  5. Weil der hebräische Artikel „ha“ ohne „h“ geschrieben ist, weil deutsch-jiddische Worte verwendet werden und weil die Zwiebeltürme auf eine slawisch-orthodoxe Umwelt hindeuten, kommt nur das südrussische Aschkenasisch in Frage (nicht aber das spanische Sefardisch oder das orientalische Samaritanisch).
  6. Die Deutung als Hebräisch erklärt die sechs sogenannten „Galgenzeichen“ im Voynich-Manuskript, die einmal mit Dagesh lene im Voynich-Manuskript, aber auch ohne Dagesh lene im Voynich-Manuskript verwendet werden. Die Galgenzeichen entsprechen den sogenannten Begadkefat-Lauten b, g, d, k, p und t. Im Hebräischen kann ein Punkt – das sogenannte „Dagesh lene“ – in sie gesetzt werden. Dann werden diese Buchstaben zu w, gh, dh, ch, f/ph und th. Das Dagesh lene im Voynich-Manuskript entspricht diesem Punkt, der den Lautwert ändert.
  7. Die Deutung als Hebräisch erklärt die fünf Buchstaben am Wortende, die im Wortinnern anders geschrieben werden als am Wortende: k, m, n, p und z (Zade).

Zu Nr. 6: Die Gegenüberstellung ist ein klarer Beweis dafür, dass es sich bei der Voynich-Schrift um Hebräisch handelt. Ich habe Hannigs Aufstellung farblich aufgeschlüsselt, damit des Hebräischen unkundige Leser*innen das Dagesh lene leichter vom eigentlichen Buchstaben unterscheiden können.

Hannigs hat die Buchstaben in der Reihenfolge k, t, b, g, d, p dargestellt, um die ähnlichen Zeichen paarweise anzuordnen (wie bei Nr. 6: eine oder zwei Schlaufen oben; eine Schlaufe oben, unten ein gerader oder ein abgewinkelter Strich; zwei Schlaufen oben, unten ein gerader oder ein abgewinkelter Strich). Ich habe sie nach der Begadkefat-Buchstabenreihenfolge umsortiert, damit Laien leichter erkennen können, was mit Begadkefat-Lauten gemeint ist:

Vergleich der Begadkefat-Buchstaben: Voynich-Alphabet, Hebräisch, Lateinisch

Gegenargumente

Der israelische Software-Kryptologe Moshe Rubin führt eine Reihe von Kritikpunkten auf, um damit schließlich Hannigs Lösung zu verwerfen. Rubin bestreitet, dass es sich um Hebräisch in einer Kunstschrift handelt. Aber die meisten seiner Argumente können einfach nur bedeuten, dass Hannig bei der Übersetzung Fehler gemacht hat. Das ist aber kein Problem. Fehler gehören zum Alltagsgeschäft eines jeden Übersetzers, besonders wenn er Neuland betritt.

Rubin geht von hochsprachlichen, mittelalterlichen rabbinischen Texten aus, aber das Voynich-Manuskript hat offenbar weltliche Inhalte und könnte von religiösen Laien geschrieben sein, deren Hebräisch durchtränkt von Einflüssen anderer Sprachen war und die gerade auch aus Gründen der Geheimhaltung kein Interesse an einer mustergültig-gelehrten Dechiffrierbarkeit hatten, weder durch Nichtjuden, noch durch gelehrte Rabbi-Kryptologen.

Was steht im Voynich-Manuskript?

Die vollständige Übersetzung des Manuskripts wird nun sicherlich noch einige Jahre in Anspruch nehmen, weil noch nicht alle Schriftzeichen verstanden sind, und weil sich auf mittelalterliches Aschkenasisch spezialisierte Hebraisten dafür u.a. auch Fachkenntnisse in mittelalterlicher griechischer und arabischer Pflanzenheilkunde und Astrologie aneignen müssen, um z.B. die arabischen Lehnwörter übersetzen zu können.

Wenn die Verfasser des Manuskripts an keiner Stelle ihre Intentionen darlegen, wird das Rätsel um den Sachinhalt zwar gelöst werden können, aber das Geheimnis um die Beweggründe und Entstehungsumstände für ein solch ominöses Werk wird bleiben.

Der Text

„Außerdem dies, hier im Gebiet der Gojim, wird geschätzt eine lügnerische Frau, die eine Menge Orte erwirbt. O dass nicht ein Sohn verzeiht so (etwas), beim Gespräch mit einem lügnerischen Fremden.“

Rainer Hannig: Voynich-Hebräisch – Der Weg zur Entzifferung, Seite 30


lässt ahnen, dass bereits die kritische Beurteilung der einheimischen Bevölkerung („Gojim“ = „die Völker“) für Unmut sorgen könnte, wenn sie bekannt würde. War Furcht ein Grund, die Textaussagen durch eine neu erfundene Schrift zu verbergen? Was steht darin, religiöse Gesellschaftskritik, als abergläubisch verschrieene Naturheilkunde, gar kabbalistisch-astrologisches Geheimwissen?

Unverfänglich erscheint dagegen der Bericht über eine Magenverstimmung:

„Stöhnte Ackersmann über Zeiten, der bequem saß im Dorf, aß er eine Suppe – Er wurde krank, nachdem er die Verdauung beendet hat. Die Leute des Wehklagens: „Heile, heile“ und auch (mit) Opfern. Er suchte auf einen Hakim lügnerischen, der irrte (?) in seinen Krankheiten. Und wenn die Furcht begann zu zittern, (?) mit dem Feind auf den Fersen, ängstlich verschloss er Gemach, Haustür auch.“

Rainer Hannig: Voynich-Hebräisch – Der Weg zur Entzifferung, Seite 20


Eine andere Passage vergleicht Charaktertypen:

„Ich (bin) ein Stier bereit(er), der ermöglicht *und erneuert das Haus und Ruinen. Du bist ein Stück Lamm, das das Maul aufsperrt und bei Auge in Auge entmutigt ist.“

Rainer Hannig: Voynich-Hebräisch – Der Weg zur Entzifferung, Seite 35


Und dann gibt es da noch einen Rat zu Heirat und einem bescheidenen Leben:

Hier, Name (=Gott), als er (es) sah, (dass) er seine Reue sprach: „Heirate Favia doch, nicht besitze / heirate Reichtum“. Sprach Ben Tiˁr: „Besitze eine Handvoll Mehl, besitze ein Kleinvieh gesundes …“

Rainer Hannig: Voynich-Hebräisch – Der Weg zur Entzifferung, Seite 43


Die „Verpackungsbeilage“ zum Saft der Seerose („Nymphaea“) verspricht einen psychischen Trip:

„Sicherlich, Nymphaea ist der Zwilling. Genug Saft in der Spitze. Trink vorsichtig (?), das ist wie (etwas), das liefert Geist. Wird kommen Saft mit Wiederholung (?). Saft ermöglicht sprechen Prophezeiung … wie rebellieren in Gegenwart von Propheten. Alles, was in Griechisch darüber ist, Schweigen ohne sprechen. Bim nicht sprechen (über) Saft, sprach: grabe doch … Gesprochen in Arabisch“

Rainer Hannig: Voynich-Hebräisch – Der Weg zur Entzifferung, Seite 44
Folio 2v: Abbildung einer Seerose mit pharmakologischer Beschreibung zur Anwendung


Zu erwarten ist also wohl eine mittelalterliche Naturheilkunde, Astrologie und Lebensberatung aus einer eigensinnigen (und darum hochkreativ geheimgehaltenen), jüdischen Sicht in der osteuropäischen Diaspora.