Der unausrottbare Gruppendenken-Virus

Heute schreibt der „Spiegel“:

„Chinas neueste Corona-Legende: China ist das Ursprungsland der Corona-Pandemie. Nun verbreitet die chinesische Führung aggressiv eine alternative Theorie: Das Virus könne durch aus dem Ausland importiertes Gefriergut nach Wuhan gelangt sein.“

Spiegel Online, 01.12.2020


Der Vorwurf ist also, dass China propagandistische Märchen erfinde, um von sich als zweifelsfrei erwiesenem Ursprungsland von Covid-19 abzulenken, und die Schuld niederträchtig auf Andere schiebe. Sicher, China betreibt Propaganda, westliche Medien aber auch.

Denn grundsätzlich wäre das eine legitime Kritik. Allerdings wäre sie nur dann intellektuell redlich, wenn auch die eigene Voreingenommenheit kritisch reflektiert würde.

Die „Wahrheit“ als Spielball der Interessen

Es ist ja bezeichnend, wie schnell die westlichen Medien ein falsches Spiel vermuten, sobald in einem konkurrierenden oder als feindlich eingeordneten Land eine Gegenposition dargelegt wird. Zugleich verschweigen oder verharmlosen sie heimische Probleme und Fehler (z.B. prangert niemand das katastrophale Versagen der deutschen Bundes- und Landesregierungen und Behörden in der Pandemie an).

Mal abgesehen davon, dass die westlichen Presse-Vertreter ihren Brötchengebern zu Gefallen sein müssen, wenn sie ihren Job nicht verlieren wollen, so lässt sich doch auch ein psychisches Grundproblem, eine irrationale Voreinstellung veranschlagen, die hier begünstigend rein spielt.

Das Gruppendenken-Syndrom

Man nehme eine beliebige Auswahl von Menschen und teile sie nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen. Nach wenigen Tagen schon wird sich zeigen, dass die Mitglieder einer Gruppe alles, was die eigene Gruppe sagt und macht, positiver und vertrauensvoller beurteilen, und alles, was Mitglieder der anderen Gruppe sagen und tun, misstrauisch und kritisch bewerten. Das waren, kurz gesagt, Versuchsaufbauten und Ergebnisse der Robbers Cave Experimente von Muzafer Sherif von 1949-1954.

In Gruppen kommt es zu schlechter Entscheidungsfindung, weil die Gruppenmitglieder eine Tendenz zur Übereinstimmung mit den anderen Gruppenmitgliedern an den Tag legen. An sich ist das förderlich für den Gruppenzusammenhalt. Aber wenn aus Rücksichtnahme auf den Gruppenkonsens eine wichtige Idee untergeht, kann es schädlich sein.

Darum ist es für Gruppen wichtig, eine Norm des kritischen Denkens zu etablieren.

Gruppendenken ist, gelinde gesagt, kein Ausdruck einer gesunden Geisteshaltung. Das sozialpsychologische Syndrom hat folgende Symptome:

1. Illusion der Unverwundbarkeit
2. Glaube an eine der Gruppe eigene Moral
3. Kollektive Rationalisierungen
4. Stereotype über Fremdgruppen
5. Selbstzensur
6. Illusion der Einmütigkeit
7. Direkter Druck auf Abweichler
8. Selbst ernannte Gedankenwächter

Quelle: Hg. v. Jonas/Stroebe/Hewstone, Lehrbuch Sozialpsychologie, 6. A. 2014, Seite 32.


Gruppenmitglieder wollen sich mit ihrer Gruppe identifizieren und sich als gutes Gruppenmitglied zeigen. Darum nehmen sie eine prototypische Gruppenposition ein, richten sich nach einer gedachten stereotypen Gruppennorm.

Diese Stereotypisierung wird zugleich zum Unterscheidungsmerkmal gegenüber einer Fremdgruppe, der ebenfalls Stereotype beigelegt werden – allerdings negative. Also beispielsweise, dass nur die Anderen Propaganda betreiben würden, man selber niemals, weil man zu gut dafür sei.

Aufgrund dieser Vereinfachungen kommt es zu einer Gruppenpolarisierung. Als Gruppe fällen Gruppenmitglieder extremere Entscheidungen, als sie es als bloße Individuen täten. Harmonie ist zwar gut. Aber Scheuklappen sind schlechte Krisenratgeber. Und Konflikte mit anderen Gruppen sind gefährlich.

Feindbilddenken

Gruppendenken ist synonym mit Feindbilddenken. Es ist eine evolutionäre Stärke, aber zugleich auch eine Schwäche und Gefahr. Bildung und Kultur sollten uns davor bewahren, dieser Dynamik unbedachten, freien Lauf zu lassen.

Leider wird dieses Wissen aber auch gegen uns verwendet von Akteuren, die ein ökonomisches oder politisches Interesse daran haben, dass Feindbilder bestehen bleiben.

Die Ost-West-Konfrontation und der sogenannte „Krieg gegen den Terror“ sind zwei der bekanntesten Beispiele. Sie legitimieren die Rüstungs- und Maximalproduktions-Agenda der Reichen (Militärisch-industrieller Komplex; Kapitalisten, die neue Märkte kriegerisch aufschließen) und Herrschenden (politische Funktionselite; [einfluss]reiche Privatleute mit eigenen politischen Stiftungen, Netzwerken, Lobbyisten u.ä.).

China am Pranger

In diesem Jahr steht China als Pandemie-Buhmann am globalen Pranger. Dort wurde im Dezember 2019 eine neue Atemwegserkrankung unbekannter Ursache identifiziert. Daraus wurde kurzerhand geschlussfolgert, dass der neue Virus SARS-CoV-2 auch dort entstanden sein müsse.

Nach der gleichen Logik wäre die „Spanische Grippe“ in Spanien entstanden, weil dort erstmals offen darüber berichtet wurde. Allerdings nahm sie in Kansas/USA ihren Ausgang und verbreitete sich von dort auf der ganzen Welt. Diese Erkenntnis hatte jedoch über zwanzig Jahre gebraucht, bis sie ab den 1940ern ernsthaft diskutiert wurde!

Eine neue Krankheit wird also nicht unbedingt gleich an ihrem Ursprungsort entdeckt. Das würde sie nur idealerweise.

So viel sollte man vernünftigerweise zugestehen. Wer hier keine weiteren Fragen und Forschungen zulässt, handelt unaufrichtig und befangen.

Der Ursprung und die erste Ausbreitung von SARS-CoV-2 muss aufgeklärt werden, um auf künftige neue Zoonosen und Pandemien besser reagieren zu können. Es wäre mindestens fahrlässig, hier aus politischen Gründen die Entstehungsgeschichte nicht weiter erforschen zu dürfen.

Erklärungsbedarf

Unstimmigkeiten in der Chronologie von Covid-19 verstärken den Eindruck, dass hier noch nicht alles geklärt ist:

  • Wann trat Covid-19 erstmalig in den USA auf? Das war mindestens schon im Dezember 2019, vermutlich sogar früher [1], [2], [3], [4], [5]. Warum China wegen Vertuschung beschuldigen, wenn sie es bei sich selber früher hätten entdecken können?
  • SARS-CoV-2 könnte nicht erst im Oktober oder November 2019, sondern bereits im September 2019 in Südchina auf den Menschen übersprungen sein [1].
  • In Frankreich gab es Covid-19 womöglich schon Ende 2019 [1], wobei sich die genetische Variante von der in Italien unterscheidet [2].
  • Der französische Virologe, HIV-Experte und Nobelpreisträger Luc Montagnier hat behauptet, in der RNA von SARS-CoV-2 eine HIV-Sequenz gefunden zu haben, was auf einen künstlichen Ursprung schließen lasse [1].
  • In Spanien hat man in Abwässern aus Madrid vom März 2019 SARS-CoV-2-Antikörper nachgewiesen [1].
  • In Italien hat man in Abwässern vom Dezember 2019 SARS-CoV-2-Antikörper nachgewiesen [1] und in Lungenproben vom September 2019 [1].

Für den „Spiegel“ mag China als verantwortungsloser Verursacher der Covid-19-Pandemie also ganz eindeutig feststehen, aber rein sachlich gesehen wäre es angebracht, den frühen Verlauf und den Ursprung weiter zu erforschen. Ganz offensichtlich ist das Bild nämlich noch überhaupt nicht vollständig! Zweifelsfrei kann nur eine weltweite Dokumentation aller frühesten SARS-CoV-2-Genome aus dem gesamten Jahr 2019 zeigen, wo der Ursprung lag. Einzig und allein in China zu suchen, nimmt das Ergebnis vorweg und ist darum unwissenschaftlich.

Neues Feindbild: China

China als Sündenbock passt jedoch gut ins Konzept des neuen Feindbildes China. Die USA forcieren es seit 2011 mit ihrer Geostrategie der „Eindämmung Chinas“. In Deutschland ist man wegen der starken Wirtschaftsverbindungen sowohl mit den USA als auch mit China noch zwiegespalten, muss aber aus freundschaftlicher Rücksichtnahme auf die transatlantischen Beziehungen immer wieder auch ins gleiche Horn stoßen.

Andererseits hat Chinas Regierung ein politisches und kulturelles Interesse daran, nicht als Schuldiger oder Versager dazustehen. Chinesische Regierungen müssen sich traditionell als würdig und fähig erweisen, Ordnung herzustellen, moralisch integer zu sein, und den Frieden zu wahren. Sonst verlieren sie ihre Legitimität, die als „Mandat des Himmels“ [1], [2] bezeichnet wird.

Chinesische Interessen einerseits und westliche Interessen andererseits nehmen politisch Einfluss auf die unbefangene, wissenschaftliche Erforschung des Ursprungs von SARS-CoV-2 und dem tatsächlichen „Patienten Null“.

Zur Wissenschaft gehört nicht nur Köpfchen, sondern auch Mut. Das gilt heute leider immer noch.


Update, 18.03.2021: Wildtier-Zuchtfarmen in Südchina sind lt. WHO offiziell Ursprungsort des Übergangs von SARS-CoV-2-Vorläufern aus Fledermäusen auf ungeklärte Zwischenwirte. Von diesen sprangen sie auf Menschen über. Viele dieser Tiere wurden außerdem auf dem Frischmarkt in Wuhan verkauft.

Update, 01.07.2021: „Bereits im Spätsommer und Frühherbst 2019 (August, September) war das Virus um die Welt gegangen, nachgewiesen aufgrund von Kranken- und Totenakten, die allesamt von »Influenza mit atypischer Symptomatik« sprachen, u. a. in Norditalien, Bayern, Frankreich, Spanien, den USA und Japan.“ (Wolfram Elsner)

Update, 30.09.2021: In Laos sind bei Hufeisennasen-Fledermäusen drei Coronavirus-Varianten entdeckt worden, deren Spike-Protein fast völlig dem Wuhan-Urtyp gleicht. Nur die Furin-Spalte fehlt, die aber durch Rekombination auf natürliche Weise entstanden sein könne. Das stärke die Hypothese eines natürlichen Ursprungs von SARS-CoV-2.