Absolut links

Losgelöst von den Sorgen und Nöten einfacher Menschen sind sich die meisten politisch linken Menschen zu schade, andere dort abzuholen, wo sie stehen – und ihnen ihren persönlichen Freiraum zu lassen. Darum verlieren linke Kräfte immer mehr an Zahlen und Bedeutung. Wer nicht mit einem einwandfrei linken Bekenntnis aufwarten kann, wird gleich als rechter Verschwörungsideologe, Querdenker oder Reichsbürger in Ablage „P“ verschoben.

Dabei sind viele Menschen, die zunächst unpolitisch waren, dann aber durch die schlechter werdenden Umstände empört wurden, zunächst einmal nur Protestierende. Das zeigt der fröhliche Wechsel bei Wählerstimmen oder Mitgliedschaften von links nach rechts bei Wahlen oder in Gewerkschaften. Wer nach Ausdrucksformen für Protest sucht, wird links enttäuscht. Linkspartei und DGB-Gewerkschaften stehen Gewehr bei Fuß fürs Establishment, dem sie mitangehören. Nur rechts scheint der Protestbedarf gestillt zu werden – auch wenn das nicht stimmt, weil sie ebendas verkörpern, was erst zu allen Gegenwartsproblemen geführt hat. Der kapitalistische Raubbau an Menschen, Gesellschaften, nationalem und internationalem Recht und an der Natur hat der Welt das heutige Chaos beschert.

Die Einstiegshürde ins Linkssein ist heutzutage sehr hoch. Zu hoch für manche, besonders wenn an jeder nächsten Ecke die „Nazi-Keule“ droht, eine Beleidigung, die zumindest soviel erreicht, dass ans linke Spektrum keine weiteren Erwartungen mehr gestellt werden. Links gibt es außerdem zahllose Fraktionen, die sich untereinander bekämpfen. Es gibt auch lautstarke Linke, die vom Kapitalismus schweigen, und alle Probleme nur für politisch motiviert halten. Die wissen nicht, wovon sie sprechen. Besonders lächerlich werden sie, wenn sie die Rede vom Finanzkapital für antisemitisch halten. So viel intellektuelles Auflösungsvermögen ist schon nötig, dass persönliche Traditionshintergründe mancher Akteure von grundsätzlichen Abläufen im kapitalistischen System unterschieden werden können.

Natürlich gibt es viele Menschen, die trotz Empörung über die vielen Krisen und Zumutungen, keine für Linke typischen Charaktereigenschaften und Neigungen besitzen, z.B. Solidarität, globale oder gar planetare Perspektive, Dringen auf das Erkennen von Ursachen und Ringen um Lösungen, die möglichst alle berücksichtigen. Sie könnten dennoch punktuell mitkämpfen, wenn es um „ihre“ Probleme geht. Aber Linke verabscheuen das. Wer nicht auch links ist, gilt ihnen bestenfalls als verkappter Nazi. Das Misstrauen gebiert denn manchmal auch das, wovon es selbsterfüllend prophezeit hat. Aber wen kann das verwundern, wenn es keine linken Angebote gibt, sondern nur rechte, wo man gerne willkommen geheißen wird? Linke sollten eine Mitmach-Option bieten für nicht genuin links Fühlende. Nur so kann gesellschaftlich eine Massenbewegung entstehen, die links angeführt wird.

Linkssein ist meistens eine Ideologie. Sie fordert Gehorsam gegenüber der offiziellen Dogmatik. Wer auch nur ein wenig abweicht, ist Häretiker (gleiche Dogmatik, andere Praxis), Ketzer (andere Dogmatik), Nazi oder einfach nur ein Feind. In festen Gruppen kommt es immer zu homogenem Denken. Der Gruppenkonsens wird dann überbetont, um die innere Konformität zu erhöhen. Diese Bunkermentalität ist wenig attraktiv für Außenstehende. Aufgenommen wird nur, wer sich zu allen Glaubensgrundsätzen bekennt. Dafür sorgt eine oligarchisch organisierte Personalstruktur, denn auch die Oligarchisierung ist ein unweigerlicher Trend, der in geschlossenen Gruppen stattfindet, wenn ihm nicht aktiv entgegen gewirkt wird.

Es gibt Menschen, die wollen einfach nur, dass der Zumutungen nicht noch mehr werden. Sie wären schon mit dem status quo ante, also dem Zustand vor dem neu eingetretenen, empörenden status quo, zufrieden. Dafür wollen sie nicht ihre Weltanschauung ändern. Manche können es auch nicht. Es gibt viele Menschen, die keine Bücher oder Zeitungen lesen. Linke dürfen von einfachen Menschen, denen die Sorgen über den Kopf wachsen, nicht erwarten oder verlangen, dass sie tausend Arbeitsstunden in linke Literatur stecken. Gibt man einem Ertrinkenden Marx‘ „Kapital“ oder Graebers „Schulden“ in die Hand, oder reicht man nicht vielmehr die Hand – und hilft. Wer im Leid versinkt, hat weder Kraft noch Geduld, um ein linkstheoretisches Konformitätsstudium zu absolvieren.

Dann gibt es noch das Problem mit der Kontaktschuld. Wer mit mittigen oder rechten Gruppen eine Friedensdemo organisiert, gilt etablierten Linken als Querfrontler, also praktisch als Verräter, Rechter und Nazi-Sympathisant. Besonders weltenthoben ist das, weil die AfD-Wählerschaft von allen Bundestagsparteien die einzige ist, die mehrheitlich gegen Panzerlieferungen in die Ukraine ist. Es gibt auch bürgerliche und nationalistische Menschen, die nicht als atomarer Bruchteil einer drohenden mitteleuropäischen Glasplatte enden wollen. Eine Friedensdemo ohne Gesinnungstest – utopisch?

Das linke Establishment hat sich so sehr in die Sackgasse manövriert, dass es vor lauter Empörung über friedensbewegte Konkurrenz von Mitte-Rechts vornehmlich nur noch andere Friedensbündnisse öffentlich diffamiert. Dient das der Sache? Ist das nicht nur quasireligiöser Puritanismus? So gewinnt man sicherlich keine Sympathien für eine Teilnahme an der nächsten eigenen Friedenskundgebung. Politisch-moralische Reinheitsgebote sind etwas für Kult-Insider. Outsider machen einen großen Bogen darum. Warum kann man nicht protestieren, ohne sich für eine politische Weltanschauung entscheiden zu müssen?

Ein weiteres Merkmal linker Strömungen ist es, Maximalforderungen für selbstverständlich zu halten. Damit ist jedoch nur sichergestellt, dass die meisten Menschen nicht soweit mitgehen können. Die gesellschaftliche Nische ist damit vorprogrammiert. So bleibt die Linke vorhersehbar klein und unbedeutend. Sie wird dadurch nicht nur unattraktiv, sondern ruft sogar Gegnerschaft hervor. Die gleichenmaßen edle wie naive Maximalforderung nach offenen Grenzen ist das beste Beispiel dafür. Aber auch „Deutschland“, Polizei, Psychiatrien oder Bundeswehr können nicht einfach so abgeschafft werden. In einer zukünftigen Welt mag so etwas denkbar und erstrebenswert sein, aber davon befinden wir uns noch Jahrhunderte und sehr viele Zwischenschritte entfernt. Fernziele für hier und heute einzufordern, ist sachlich naiv und führt gesellschaftlich zu Ablehnung und Spaltung. Linke sehen im Widerstand gegen utopische Maximalforderungen natürlich nur wieder die üblichen Nazis am Walten. Wenn man nur weit genug links steht, sind alle Anderen zwangsläufig rechtsaußen.

Viele Themen sind nicht spezifisch links. Und mit jeder neuen Gelegenheit werden Menschen von Linken vor den Kopf gestoßen und in die rechte Ecke gestellt. Das war bei den Zumutungen der Pandemie so, als Linke vehement die Regierungslinie verteidigt hatten und Andersdenkende an den Pranger stellten. Das ist jetzt in den Zumutungen der Sanktions- und Eskalationsfolgen im Ukrainekonflikt so. Das ist aber auch der Fall, wenn Klimaschützer einfache Menschen daran hindern, zu Schule, Arbeit, Einkauf oder Arzt zu fahren. Wer solche Linke hat, braucht keine anderen Feinde mehr. Wenn dann nur noch rechte Protestkanäle übrig bleiben, wenden sie sich eben dorthin. Die herrschende Klasse der Reichen und Mächtigen kann sich jedenfalls beruhigt zurücklehnen. Wer so sehr gegen die eigenen Sachinteressen agiert wie die deutsche Linke, kann ihnen niemals gefährlich werden.

Ideologischer Überbietungswettbewerb, Gesinnungszwang, moralischer Puritanismus, theoretische Überforderung von Interessierten sowie zugespitzte Maximalforderungen kennzeichnen den linken Alltag. Da muss sich niemand wundern, wenn dieses „links“ am Ende ist.