Überlebenskünstler Bärtierchen

Japanische Forscher haben die kleinsten und zugleich größten mehrzelligen Überlebenskünstler auf diesem Planeten genauer unter die Lupe genommen, besser gesagt, ihre Proteine in Trifluoroethanol aufgelöst, und so 336 bärtierchen-eigene Proteine entdeckt. Drei davon sind sogenannte CAHS-Proteine (cytoplasmic-abundant heat soluble [CAHS] proteins). Sie verleihen den Bärtierchenzellen Stabilität, wenn der zelluläre Wasserdruck verringert wird. Dann bilden sie eine feste, netzartige Struktur aus, die nach Hinzugabe von Wasser wieder flexibel wird. Diese CAHS-Proteine haben im Laborversuch auch menschlichen und Insektenzellen zu mehr Stabilität verholfen. Was die 333 anderen, einzigartigen Proteine bewirken, muss noch erforscht werden.

Die mikroskopisch kleinen Bärtierchen überleben Verhungern, Kochen, Gefrieren, Bestrahlen, Sauerstoffentzug, Weltraumvakuum, Hochdruck und sogar die extreme Beschleunigung beim Abschießen auf einer Gewehrkugel. Vermutlich leben sogar noch die Bärtierchen, die 2019 in der israelischen Mondlandesonde Beresheet auf dem Mond gebruchlandet sind bzw. schlummern sie dort im Zustand der Kryptobiose als „Tönnchen“ (engl. „tun“).

Die 1.300 bekannten Bärtierchenarten leben auf allen Kontinenten und in allen Meeren, sei es im heimischen Keller, oder in Vulkanschlot, Arktiseis und Tiefsee. Die possierlichen, zwischen 50 bis 1.500 Mikrometer kleinen Tierchen bevölkerten schon den Urkontinent Pangäa und haben sich mit diesem über die Welt verbreitet.

So hartgesotten sie auch sind, der Mensch – die tödlichste Spezies auf diesem Planeten und ein biologisches extinction-level event auf zwei Beinen – hat Mittel und Wege gefunden, selbst Bärtierchen gefährlich zu werden durch Umweltgifte, insbesondere Schwefeltrioxid, sowie Schwermetalle.

Aber zumindest die kommenden Winter brauchen die kleinen Racker nicht zu fürchten. Anstatt Energiebossen die Taschen voll zu stopfen, würden sie den ganzen Unsinn einfach in der Kryptobiose aussitzen.

Extrembedingungen und Wasser – mehr braucht es nicht fürs Bärtierchen. Exobiologen lieben sie darum innig.

Da dürfte eine andere Nachricht ganz nach ihrem – sowohl der Bärtierchen als auch der Exobiologen – Geschmack sein, denn einer Studie zufolge könnte es in der Milchstraße nur so vor einer bislang unbeachteten Klasse von Gestein-Wasser-Planeten wimmeln. Diese würden wie der Jupitermond Ganymed aus etwa 50 Prozent Gestein und 50 Prozent Wasser bestehen. Das Wasser wäre mineralisch gebunden wie auf unserem Mond oder als Ozean unter einer Eisschicht wie auf den Jupitermonden Ganymed und Europa, aber wohl eher selten als oberirdischer Ozean, weil viele Planeten keine Atmosphäre haben, die vor planetarem Oberflächenwasserverlust schützt.

Diese Gestein-Wasser-Welten umkreisen wahrscheinlich den mit Abstand häufigsten Sterntyp in der Galaxis, die mit bloßem Augen nicht sichtbaren Roten Zwerge. Sie machen fast Dreiviertel aller Sterne in der Milchstraße aus. Diese Sterne können aufgrund ihrer langsamen Fusion 100 Milliarden Jahre lang bestehen – also mehrfach länger als das Universum bisher alt ist – und bieten damit ausreichend Zeit für die Entstehung und Entwicklung von Leben.

Wir auf unserem wunderbar blau-grünen Planeten haben so wenig Verständnis dafür, wie empfindlich und kostbar Leben ist. Ob hochentwickelte Lebewesen auf extremeren Welten mehr Sinn dafür haben, dass Leben gar nicht so selbstverständlich, und deswegen per se schutzbedürftig ist? Ob eine energiearme, langsamere Entwicklung ihnen Geduld und Bescheidenheit als evolutionäres Erbe mitgibt? Oder werden solche Bedingungen eher bornierte Extremdarwinisten hervorbringen, die von Anderen die gleiche Härte erwarten, unter der sie selber entstanden sind? Eine Mischung daraus wären faschistische Ökologen. Nicht wirklich schön, aber resilienter als der raubmörderische Suchtrausch des turbokapitalistischen Maximalprofits.

Der costa-ricanische, indigene Schriftsteller José León Sánchez hat dem aztekischen Gelehrten Cacamatzin folgende Worte in den Mund gelegt. Zum Mönch Bartolomé de Olmedo sagt er:

Was nun euern Hunger auf Gold betrifft, so erinnere ich mich daran, dass Kapitän Cortéz gesagt hat, dass man in dem Land, aus dem ihr kommt, verzweifelt des Goldes zur Heilung vieler Leiden bedarf. Wir werden euch alles Gold, das wir haben, in der Hoffnung geben, dass ihr eines Tages von all euren Übeln befreit sein werdet, die darin begründet sind, dass ihr kein Gold besitzt.

José León Sánchez: Tenochtitlan. Die letzte Schlacht der Azteken, Kapitel XIII

 

Aus der archaischen Faszination für ein glänzendes Metall haben manche Menschen eine materielle Unkultur gemacht, die uns im industriellen Zeitalter den Kapitalismus beschert hat. Bärtierchen würden darüber nur den Kopf schütteln. Man braucht Gold – aka Kapital – nicht zum Leben oder auch nur Überleben, aber ausgerechnet danach richtet man alles Leben und Streben aus? Viel mehr Unsinn kann nicht sein. Und so eine Spezies wähnt sich intelligent? Wie selbstverliebt, wie Trump kann man sein?

Wenn die Menschheit sich vornehmlich nur um das kümmert, was sie zum Leben braucht, gefährdet sie auch ihr eigenes Überleben nicht mehr. Das muss ihr nur bewusst werden, und dann muss sie die kleine Clique von skrupellosen Reichen und Mächtigen entthronen, die die Menschheit wie Marionetten fremdbestimmt, sei es durch Schule, Massenmedien oder Algorithmen, in denen der Gehorsam gegenüber Staat, Konzern, Chef oder Vermieter indoktriniert wird.


Update, 12.10.2022: Bärtierchen bestätigen die Dornröschen-Hypothese, wonach Kälteschlaf jung hält.