Raúl Castro – Ein Leben im Dienst der Revolution, Teil 1

Raúl Castro übernahm am 24. Februar 2008 das Präsidentenamt von seinem älteren Bruder Fidel. Der am 3. Juni 1931 (gerade 91 Jahre alt geworden) geborene Raúl war bis dahin Vielen eher unbekannt. Aber Kommunist und Revolutionär aus eigenem Verdienst war er schon seit den frühen 1950er Jahren. Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Raúls Lebensgeschichte ist die der siegreichen Behauptung einer kleinen Insel gegen eine benachbarte Weltmacht.

Die kubanische Rebellion

Bereits 1953 nahm der Student Raúl an einem revolutionären Fackelmarsch in Havanna teil, reiste als Leiter der kubanischen Delegation zur „Internationalen Konferenz zur Verteidigung der Rechte der Jugend“ nach Wien, knüpfte dort viele Kontakte, und besuchte Bukarest, Prag, Budapest und Paris. Bei seiner Rückkehr wurde er festgenommen, aber keine zwei Wochen später mangels Haftgründen freigelassen. Dann trat er der Kommunistischen Partei bei, die ein Ende der Diktatur von Fulgencio Batista und der Abhängigkeit von den imperialen USA auf demokratischem Wege anstrebte. Aber Fidel bereitete zu dieser Zeit schon den Sturm auf die Moncada-Kaserne vor, der am 26. Juli 1953 stattfand.

Raúl kämpfte mit und bewies dabei Geistesgegenwart und Führungsstärke. Obwohl die 165 Revolutionäre militärisch scheiterten, 61 von ihnen fielen, und der Rest gefangen genommen wurde, gilt der Sturm auf die Moncada-Kaserne als Startschuss der kubanischen Revolution, und ist der 26. Juli als „Tag der kubanischen Rebellion“ ein gesetzlicher Feiertag.

Während Prozess und Haft konnten die Revolutionäre viele Sympathien in der Bevölkerung für sich gewinnen. Nach einem scheindemokratischen Wahltheater versuchte Batista weiteren Unruhen den Wind aus den Segeln zu nehmen, und erließ eine Generalamnestie. So kam auch Raúl am 15. Mai 1955 wieder frei. In Havanna wurden die „Moncadisten“ von einer Menschenmenge freudig begrüßt. Unbeeindruckt von Batistas scheinbarer Großmütigkeit setzten sie ihre revolutionäre Aufklärungsarbeit fort, wurden jedoch durch einen ihnen fälschlich zugeschriebenen Bombenanschlag zur Flucht gedrängt. Raúl reiste am 24. Juni 1955 nach Mexiko, das ihm politisches Asyl gewährt hatte. Am 7. Juli folgte Fidel.

Die kubanische Revolution

In Mexiko lernten Fidel und Raúl nicht nur Ernesto „Che“ Guevara kennen, sondern auch General Alberto Bayo, der im spanischen Bürgerkrieg gegen den faschistischen Diktator Franco gekämpft hatte, und die kubanischen Revolutionäre im Guerillakampf ausbildete. Bayo meinte über Raúl: „Raúl ist Fidel mal zwei in Energie, Starrheit, Charakter. … Raúl ist gehärteter Stahl.“

Am 25. November 1956 stach die Yacht „Granma“ mit 82 Guerilleros in See in Richtung Kuba, wo sie am 2. Dezember mangels Treibstoffes strandete – trotzdem Grund genug, diesen Tag auf Kuba jährlich als „Tag der Revolutionären Streitkräfte“ zu feiern. Bei Raúls erstem Kommando waren ihm 50 Kämpferinnen und Kämpfer unterstellt. Nur 9 Monate später waren es schon eintausend. Er war für die „Zweite Front“ in der Sierra Cristal verantwortlich.

Dort, im Nordosten der Provinz Oriente, gründeten die Revolutionäre unter Raúl die „Rebellische Republik“. Im Oktober 1958 schrieb Raúl eine einfache Verfassung für sie: Ihm selbst unterstand dabei die Abteilung „Verteidigung“. Landlose Bauern erhielten Land. Schulen, Krankenhäuser, Apotheken, Straßen, Werkstätten und kleine Fabriken wurden errichtet. Revolutionäre Bauernkomitees kümmerten sich um die Lebensmittelversorgung. Statt Steuern zu erheben, bezahlten die Revolutionäre für alles, was sie von den Bauern erhielten. Das steigerte die Sympathien in der Bevölkerung. Die Guerilleros erhielten regen Zulauf.

Aber auch die Diktatur reagierte, und warf Bomben und Napalm, die sie vom US-Stützpunkt Guantanamo erhielt, über den Rebellengebieten ab. Daraufhin ließ Raúl darin verwickelte US-Bürger verhaften. Mit dem US-Konsul handelte Raúl die Freilassung von 48 Gefangenen aus. Im Gegenzug stellen die USA ihre offene militärische Unterstützung ein. Der revolutionäre Befreiungskampf ging weiter. Silvester 1958 floh Diktator Batista mitsamt der Staatskasse zu seinem Freund, Diktator Trujillo, in die Dominikanische Republik. Am 8. Januar 1959 zogen die Revolutionäre schließlich siegreich in Havanna ein, unterstützt von einem einwöchigen Generalstreik, zu dem endlich auch die Sozialistische Volkspartei aufgerufen hatte.

Die nicht nach Florida geflohenen – und dort zeitlebens straffrei gebliebenen – Schergen und Mörder der Diktatur wurden nach dem Vorbild der Nürnberger Prozesse verurteilt und etwa 500 von ihnen hingerichtet, darunter welche, die dutzende Menschen getötet hatten oder die Folteropfern Nägel in die Köpfe geschlagen hatten.

Die zuvor stumme, selbstgerechte Weltgemeinschaft empörte sich über diese Hinrichtungen. Recht ist ihnen nur, was ihren ausbeuterischen Lebensstil ermöglicht und aufrecht erhält. Revolutionen und gerechte Strafen für begangene Verbrechen gehören nicht dazu.

Eine revolutionäre Ehe

Der siegreiche Revolutionär Raúl heiratete am 26. Januar 1959 die ebenso siegreiche Revolutionärin Vilma Espin, die seit Juni 1958 in der von ihm geleiteten Zweiten Front mitgekämpft hatte. Zwei ihrer vier Kinder spielen in der kubanischen Politik eine Rolle: Die Pädagogin Mariela Castro Espin ist Abgeordnete der Nationalversammlung und Direktorin des Nationalen Zentrums für sexuelle Aufklärung. Der Politikwissenschaftler und Oberst Alejandro Castro Espin war Teil der kleinen Abordnung, die Raúl bei den Verhandlungen mit US-Präsident Barack Obama im Dezember 2014 begleitete, um die Beziehungen zu den USA zu normalisieren.

Die Chemie-Ingenieurin, Revolutionärin und „Heldin der Republik Kuba“ Vilma Espin gilt als eine der einflussreichsten Frauen der kubanischen Geschichte. Ab März 1959 organisierte sie die Frauen in einem eigenen Verband. Von der Gründung am 23. August 1960 bis zu ihrem Tod am 18. Juni 2007 war Vilma Espin Präsidentin des Frauenverbandes „Federacion de Mujeres Cubanas“. Der Verband leistet bis heute Bildungsarbeit, um Frauen und Mütter gleichberechtigt in Beruf und Politik zu bringen. Das bedeutete u.a., dass auch Männer häusliche Pflichten übernehmen mussten, und dass Betreuungsangebote für Kinder geschaffen wurden. Schon seit den 1960er Jahren setzte sie sich für die Resozialisierung von Prostituierten und für Homosexuellenrechte ein.

Die Revolution verteidigen

Am 2. Februar 1959 wurde Raúl zum Armeegeneral und zum stellvertretenden Oberbefehlshaber über die Streitkräfte ernannt. Erster „Comandante en Jefe“ war und blieb Fidel, der aber von Attentatsplänen gegen sich erfahren hatte und darum seine Nachfolge regeln musste. Raúl erhielt die Aufgabe, die Armee auf die Revolution und den Schutz des Volkes zu verpflichten und sie so umzubauen, dass eine US-Intervention wie in Guatemala 1954 abgewehrt werden konnte.

Dazu arbeitete Raúl eine Anordnung aus, wonach „die Revolutionären Streitkräfte niemals mehr die Waffen gegen Arbeiter, Bauern und andere Teile der Bevölkerung richten“ dürften. Am 16. Oktober 1959 wurde das „Ministerium der revolutionären Streitkräfte“ gegründet und Raúl zum Verteidigungsminister Kubas. Mit nur 28 Jahren war er der weltweit jüngste Verteidigungsminister. Auf diesem Posten blieb er bis zum 24. Februar 2008, als er von der Nationalversammlung in Nachfolge Fidel Castros zum Präsidenten Kubas gewählt wurde.

Neben den regulären Streitkräften wurden in Produktionszentren Volksmilizen aufgestellt, die aus Gewerkschaftern, Arbeitern, Bauern und Studenten bestanden. Weil die Exil-Kubaner viele Sabotageakte und Anschläge verübten, wurden außerdem in jedem Stadtteil und Ort „Komitees zur Verteidigung der Revolution“ (CDR) gegründet. Sie übernahmen auch soziale und andere zivile Aufgaben. Dadurch erhielt die kubanische Gesellschaft einen sehr hohen Organisationsgrad, der ihr auch bei Evakuierungen vor Hurrikanen oder bei der Impfkampagne gegen Covid-19 zugute kam. Gegner kritisieren die CDRs als Kontrollmechanismen. Sie machen einen Regime-Change in Kuba so gut wie unmöglich.

Die sozialistische Revolution

Neben der Neuausrichtung der militärischen Macht musste auch die wirtschaftliche Macht neu geordnet werden. Seit den Tagen des mexikanischen Exils hatten die Revolutionäre dafür Eckpunkte aufgestellt:

  • Die Zucker- und Tabakplantagen, oft in US-Besitz, sollten aufgeteilt werden,
  • alle Vermögen, die in der Diktatur durch Korruption erworbenen worden waren, sollten konfisziert werden,
  • die Versorgungsbetriebe sollten verstaatlicht werden,
  • 30 Prozent der Industrieunternehmen sollten an kubanische Arbeiter übergeben werden,
  • Bildung, Gesundheitsversorgung und Teilhabe an Kultur und Sport sollten für alle Kubaner kostenfrei zugänglich sein.

Mit einem kapitalistischen Wirtschaftssystem und einem bürgerlichen politischen System war das nicht zu haben. Darin waren sich Fidel, Raúl, Che Guevara und Vilma Espin einig. Das ging nur sozialistisch.

Ab Mai 1959 wurde im Zuge der Agrarreform Großgrundbesitz aufgelöst. Über 100.000 Bauern erhielten unentgeltlich Land zugeteilt. 1960 wurde ausländisches und inländisches Eigentum enteignet, bis alle Hauptwirtschaftszweige Volkseigentum waren. Die Agrarreform war der „kubanische Rubikon“. Das „Gespenst des Kommunismus“ im eigenen „Hinterhof“ wollten sich die USA nicht gefallen lassen. US-Präsident Dwight D. Eisenhower gab ab Oktober 1959 grünes Licht für verdeckte Luft- und Seeangriffe auf Kuba sowie für die Anwerbung konterrevolutionärer Gruppen auf Kuba. CIA und Pentagon bereiteten eine Invasion vor, um die Castros durch eine US-freundliche Diktatur zu ersetzen.

Innerhalb der Revolution gab es in der Moncada-Bewegung M-26-7 der Rebellion von 1953 eine bürgerliche, pro-kapitalistische Strömung, die zwar gegen den Diktator Batista kämpfen wollte, aber nicht für den Kommunismus war. Von diesen plante eine Gruppe unter Huber Matos einen Aufstand gegen die Revolutionsregierung, wurde aber kurz vor der Ausführung im Oktober 1959 verhaftet. Nach 20 Jahren Haft ging Matos nach Florida und half von dort, Anschläge auf Kuba zu verüben. Insgesamt waren die Konterrevolutionäre viel zu Wenige, und die große Mehrheit war für die sozialen Ziele der Revolution.

Die Suche nach Verbündeten

Die Revolution brauchte insbesondere Kampfflugzeuge. Aber die USA übten Druck auf viele Staaten aus, so dass selbst das sozialistische Jugoslawien vor Geschäften mit Kuba abgeschreckt wurde. Im Warschauer Pakt wusste man nicht, was man von den jungen Revolutionären auf der Karibikinsel halten sollte. China war freundlich gesonnen, aber selbst noch in der vor-industriellen Phase und mit genügend eigenen Problemen beschäftigt.

In Moskau erinnerten sich dann aber doch Außenministerium und KGB an einen ehemaligen Diplomaten mit zu viel Eigeninitiative, Nikolai Leonow, der Raúl bereits 1953 auf seiner Europareise kennengelernt hatte und später im mexikanischen Exil erneut Kontakt zu ihm hatte. Weil diese Kontakte zu Raúl, Fidel und Che damals nicht autorisiert gewesen waren, hatte man Leonow aus dem diplomatischen Dienst entfernt. Leonow wurde als Dolmetscher des stellvertretenden sowjetischen Ministerpräsidenten Anastas Mikojan zu Messen nach Mexiko und nach Havanna geschickt. Im Februar 1960 trafen sich Leonow und Raúl Castro in Havanna wieder. Die UdSSR gab Kuba einen Kredit von über 100 Mio. US-Dollar, die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen wurde beschlossen, sowie ein Vertrag über den Austausch von Öl gegen Zucker – und Gewehre und Flugzeuge.

Im Juni 1960 ging Raúl nach Moskau, und bekam Panzer, Artillerie, Ausbilder, Flugabwehrgeschütze und Jagdflugzeuge. Die waren bitter nötig. Am 5. März 1960 war ein französisches Schiff mit belgischen Waffen im Hafen von Havanna explodiert. Über hundert Menschen starben und zweihundert wurden verletzt. Am 15. April 1961 griffen 8 Bomber der CIA drei kubanische Militärflughäfen an. Bei der Beerdigung der Opfer sprach Fidel Castro erstmals öffentlich vom sozialistischen Charakter der kubanischen Revolution. Die kapitalistische, imperiale Reaktion erfolgte prompt.

Die Invasion in der Schweinebucht

Am 17. April 1961 landeten über 1.500 Söldner unter dem Schutz von US-Flugzeugen und Kriegsschiffen in der Schweinebucht, an der kubanischen Südküste, um die revolutionäre Regierung zu stürzen. Milizen, bewaffnete Bevölkerung und revolutionäre Streitkräfte beendeten die Invasion in weniger als drei Tagen. 176 Verteidiger starben, über 300 wurden verletzt. Über 200 Angreifer wurden getötet, knapp 1.200 Söldner wurden festgenommen. Die Gefangenen wurden später im Austausch für Medikamente und Nahrungsmittel im Wert von 52 Mio. US-Dollar an die USA überstellt. Fidel leitete die Verteidigungskämpfe, während Raúl im Osten bei Guantanamo aufpasste, ob nicht noch eine weitere Invasion stattfände.

Die Kuba-Krise

In der Sowjetunion erhoffte man vom sozialistischen Kuba so sehr wie die USA es befürchteten, dass die Revolution in Mittel- und Südamerika Nachahmer fände. Statt nur vor den Vereinten Nationen gegen Aktionen der USA zu protestieren, wollte Nikita Chruschtschow, Erster Sekretär der KPdSU, Kuba ernsthafter verteidigen. Da dem KGB Informationen über einen geplanten US-Angriff vorlagen und John F. Kennedy im Februar 1962 eine Handelsblockade gegen Kuba in Kraft setzte, war Eile geboten. Den Vorschlag, atomar bestückte Mittelstreckenraketen auf Kuba zu stationieren, nahmen Fidel, Raúl und Che Guevara zunächst ablehnend auf, aber da eine Invasion der USA bevorzustehen schien, willigten sie schließlich ein, so dass im April 1962 mit dem Bau der ersten Anlagen begonnen wurde. Im Juni 1962 reiste Raúl nach Moskau und unterschrieb mehrere Beistandsverträge.

Nachdem die USA im Oktober 1962 die Anlagen auf der Insel entdeckt hatten und Raketen auf sowjetischen Frachtschiffen, die Richtung Kuba steuerten, stand die Welt zum zweiten Mal innerhalb von vier Jahren kurz vor dem drohenden Atomkrieg. Am 28. Oktober 1962 erklärt sich Chruschtschow dazu bereit, keine Atomwaffen auf Kuba zu stationieren. Im Gegenzug sollten die USA ihre atomaren Mittelstreckenraketen aus der Türkei entfernen, die sie dort 1958 aufgestellt hatten. Das taten sie 1964. Leider hatte Chruschtschow diese Vereinbarung über die Köpfe der Kubaner hinweg getroffen, denn mindestens auch die Rückgabe des besetzten Gebietes in der Bucht von Guantanamo und den Abzug des dort stationierten US-Militärs hätten Fidel und Raúl erwartet.

Exkurs: Die „Quemoy-Krise“ von 1958

Bereits 1958 planten die USA, Atomwaffen gegen China einzusetzen, um es an einer Invasion von Taiwan zu hindern – obwohl sie damit rechneten, dass die Sowjetunion China zur Hilfe kommen würde. Watergate-Journalist Daniel Ellsberg hat im Mai 2021 diese bis dahin geheimgehaltene „Quemoy-Krise“ enthüllt. Sie ist benannt nach einer Insel unmittelbar vor der chinesischen Küste, die aber von der nationalistisch-kapitalistischen Kuomintang gehalten wurde. Nachdem China seinen Artilleriebeschuss auf Quemoy und die Matsu-Inseln eingestellt hatte und auch nicht mehr willens schien, Taiwan zu erobern, blieben die US-Atombomben in den Depots und konnte sich das Rad der Geschichte weiterdrehen. Quemoy und Kuba – beide Male wären die USA es gewesen, die zuerst auf den „roten Knopf“ gedrückt hätten. Der Kapitalismus ist ihnen wichtiger als das Fortbestehen der Menschheit.

Die Kommunistische Partei Kubas

Bis 1965 hatte das revolutionäre Kuba keine kommunistische Partei, nur zwei revolutionäre Organisationen und die Sozialistische Volkspartei, die sich im März 1962 zur „Vereinigten Partei der Sozialistischen Revolution von Kuba“ (PURSC) zusammenschlossen. Raúl und Che erarbeiteten in den folgenden Jahren Pläne für die Kommunistische Partei Kubas. Sie wurde am 3. Oktober 1965 gegründet. Parteizeitung wurde die bis heute auch in einer deutschsprachigen Ausgabe erscheinende „Granma“.

Kubanisch-sowjetische Differenzen

Unter Leonid Breschnew richtete die Sowjetunion ihren Kurs auf eine „friedliche Koexistenz mit dem Kapitalismus“ aus. Das sorgte auf Kuba für Bauchschmerzen, ebenso der Konflikt zwischen UdSSR und China. Ein besonderer diplomatischer Balanceakt wurde Raúls Bewertung des Einmarschs sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei 1968. Obwohl die Kubaner sich immer klar für die Souveränität aller Länder ausgesprochen hatten, nahm Raúl zähneknirschend die Argumentation der „Breschnew-Doktrin“ hin, wonach die Interessen des gesamten sozialistischen Blocks wichtiger seien als die Souveränität eines einzelnen sozialistischen Landes.

Zumindest war Kuba nicht Teil des Warschauer Vertrages, so dass die „Breschnew-Doktrin“ nicht auf Kuba hätte angewendet werden dürfen. (Die Abschaffung der Doktrin unter Michail Gorbatschow ermöglichte den interventionslosen Zerfall des Warschauer Paktes.) Raúl Castro musste als Verteidigungsminister die sowjetische Militärhilfe höher bewerten als das Nichteinmischungsprinzip.

1968 erfuhr Raúl von einer Gruppe von kubanischen, sowjetischen und tschechoslowakischen Akteuren aus Diplomatie, Presse und Parteifunktionären, denen das „revolutionäre Abenteurertum“ Kubas missfiel und die für Kuba eine enge Bindung an die Sowjetunion und ihre außenpolitische Doktrin anstrebten. 36 Konspirateure wurden zu Haftstrafen verurteilt, ausländische Kontaktleute des Landes verwiesen, u.a. der zweite Sekretär der sowjetischen Botschaft und die Korrespondenten von „Pradwa“ und „Nowosti“.

1979 überraschte der seit mehreren Jahren kranke Breschnew Kuba damit, dass der die sowjetischen Truppen auf Kuba als „Ausbildungs- und Studieneinheiten“ bezeichnete. Damit war klar, dass sie im Falle eines US-Angriffs nicht kämpfen würden. 1982 flog Raúl nach Moskau, weil Ronald Reagan den Ton gegenüber Kuba wieder verschärft hatte. Aber statt der erhofften Erklärung, dass die Sowjetunion keine Aggression der USA gegenüber Kuba dulden würde, erklärte ihm Breschnews Nachfolger Juri Andropow, dass die UdSSR Kuba nicht verteidigen werde. Erst elf Jahre später, nach dem Ende der Sowjetunion, machte Raúl diese Aussage öffentlich.

Schlimmer wurde es unter Gorbatschow, der Kuba hasste, und ab 1986 die Handelsbedingungen mit Kuba deutlich verschlechterte. Bei seinem Besuch in Havanna 1989 wollte er Fidel auf seinen Kurs einschwören, was ihm natürlich nicht gelang. Mit dem Ende der Sowjetunion am 21. Dezember 1991 waren Raúl und den USA klar, dass niemand mehr Kuba zur Seite stehen würde. Allerdings hatte Raúl Kuba darauf vorbereitet. Dazu später mehr.

Die ostdeutsch-kubanische Solidarität

Im Dezember 1960 rief Walter Ulbricht dazu auf, die kubanische Revolution mit allen Kräften zu unterstützen. Das geschah wirtschaftlich, wissenschaftlich, kulturell, und auch militärisch. Weil die USA vom Stützpunkt Guantanamo aus immer wieder für Provokationen sorgten – auch mit Toten auf kubanischer Seite -, bemühte sich Raúl darum, Erfahrungen aus dem Grenzsicherungssystem der DDR an der Grenze zum US-Stützpunkt in Anwendung zu bringen. Die Grenzsicherung funktionierte. Weiterhin wurden in der DDR kubanische Militärexperten und Offiziere ausgebildet. 1989/1990 waren noch über 100 Offiziersanwärter an Hochschulen in der DDR eingeschrieben. Insgesamt wurden über 40.000 Kubaner in der DDR an Universitäten und in Betrieben ausgebildet.

Der westdeutsch-kubanische Klassenkampf

Das Verhältnis zur BRD war unterkühlt. Noch im Mai 1957 hatte Diktator Batista den höchsten Orden der BRD erhalten, die Sonderstufe des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Dabei hatte Batista von 1952 bis 1958 bis zu 20.000 Menschen umbringen, und noch mehr foltern lassen. Sogar die westdeutsche Presse berichtete davon, wie Folteropfer bei vollem Bewusstsein kastriert, oder ihre Füße in Säure getaucht wurden, oder wie politische Gefangene mitansehen mussten, wie Polizisten ihre Frauen vergewaltigten. Die Ermordeten lagen zur Abschreckung oft tagelang in den Straßen.

Nach der Revolution nahm der BND unter dem weißgewaschenen Faschisten Reinhard Gehlen (Mitplaner des „Unternehmen Barbarossa“) die „Aufklärung über weltkommunistische Aktivitäten“ auf. Bereits 1960 stufte er Kuba als Bedrohung ein, gegen die die USA mit einem Präventivschlag vorgehen sollten. Nach der Kuba-Krise bedauerte er gegenüber seinem Vertrauensfaschisten im Bundeskanzleramt, Hans Globke (Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze), die Unentschlossenheit der US-Führung. Natürlich war auch Konrad Adenauer auf Linie und forderte einen Militärschlag gegen Kuba.

Als die DDR und Kuba 1963 diplomatische Beziehungen aufnahmen, brach die BRD ihre zu Kuba ab. Erst unter Willy Brandt wurden sie 1975 wieder aufgenommen. Nach dem Ende der DDR kündigte das wiedervereinte Deutschland sämtliche Verträge, die DDR und Kuba miteinander geschlossen hatten. Einzig die Forderung von Schulden Kubas gegenüber der DDR wurde aufrechterhalten. Noch 2004 boykottierte Deutschland unter der Schröder-Regierung die Internationale Buchmesse in Havanna, obwohl Deutschland dort das Ehrengastland gewesen wäre. Immerhin waren Außenminister Frank-Walter Steinmeier 2015 und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel 2016 bei Besuchen auf Kuba versöhnlicher gestimmt, so dass in manchen Bereichen Zusammenarbeit wieder möglich geworden ist.

Internationalistische Aktivitäten

Revolutionäre denken nicht nur an sich, sondern auch an alle anderen, die weltweit unterdrückt und ausgebeutet werden. Darum stand für Kuba von Anfang an fest, dass man als erfolgreicher Teil einer weltweiten Befreiungsbewegung auch anderen Ländern und Völkern zur Seite stehen wolle.

1963 schickte Raúl Panzer und Soldaten nach Algerien, das sich einer von den USA unterstützten Offensive Marokkos erwehren musste. Dazu wies er sie an, sich nicht wie Soldaten, sondern wie Revolutionäre zu verhalten, also immer bescheiden zu sein und Sitten, Gebräuche und Religion des Gastlandes zu respektieren.

1975 bat der angolanische MPLA-Anführer Agostinho Neto um Unterstützung gegen eine Invasion des südafrikanischen Apartheidsregimes. Raúl entsendete in der „Operation Carlotta“, benannt nach der Anführerin eines Sklavenaufstandes in Kuba im 19. Jahrhundert, tausende freiwillige Soldaten und Ausrüstung. Die südafrikanische Invasion scheiterte. Als Raúl 1977 Angola besuchte, um mit Agostinho Neto über den Abzug der kubanischen Internationalisten zu sprechen, rüsteten die USA und andere westliche Staaten bereits die UNITA-Rebellen hoch, so dass Kuba dort blieb und erst 1991 Angola verließ. 1988 handelte Kuba mit Südafrika ein Ende der südafrikanischen Einmischung in Angola, Unabhängigkeit für Namibia und den Abzug der kubanischen Truppen aus. Kuba bestritt alle Mittel und Kosten dieses Einsatzes, während dessen Verlauf etwa 430.000 Kubaner in Angola gekämpft – und über Zehntausend ihr Leben gelassen –, oder als Ärzte, Techniker, Lehrer und Bauarbeiter zivile Hilfe geleistet hatten.

Ein schwerer Schlag war die Affäre um General Arnaldo Ochoa, der von 1987 bis 1989 Oberbefehlshaber der Truppen in Angola war. Zusammen mit einigen Offizieren hatte er für das Medellin-Kartell Drogen im Wert von mehreren Milliarden US-Dollar in die USA geschleust. Nach eigener Aussage wollten sie damit Güter und Ersatzteile beschaffen, an die wegen der Blockade Kubas durch die USA anders kein Herankommen war, um ihrem Land zu helfen. Da die Fake-News-Maschinerie der westlichen und insbesondere exil-kubanischen Medien die kubanische Regierung der Mitwisserschaft bezichtigte, stellte dieser Fall das Ansehen der kubanischen Revolution insgesamt in ein schlechtes Licht. Auch wurden in den USA wieder Forderungen nach einer Militärintervention laut. General Ochoa und mehrere Mittäter wurden zum Tode verurteilt, um an der Integrität der kubanischen Führung und Streitkräfte keinen Zweifel zu lassen. Raúl erklärte das in einer zweieinhalbstündigen Rede gegenüber 1.200 ranghohen Offizieren.

Ein Kurs in Selbstverteidigung

Als Verteidigungsminister einer kleinen Insel, dessen Nachbar das weltgrößte Imperium ist, und dessen Verbündete von „friedlicher Koexistenz mit dem Kapitalismus“ träumten, musste Raúl sich etwas einfallen lassen.

Seit 1962 hatte Raúl die Revolutionären Streitkräfte so aufgebaut, dass sie sich selbst mit Kleidung und Nahrung versorgen und nötige Reparaturen selbstständig ausführen konnten. Wenn die Zeit es zuließ, halfen sie sogar in Landwirtschaft und Fabriken aus. Das wurde durch die beim Militär übliche Disziplin zum Erfolgsmodell, so dass sich später vom Militär geführte Unternehmen etablierten, die bis heute zu den produktivsten auf Kuba gehören. Der Kommunistische Jugendverband stellte ab 1968 Arbeitsbrigaden auf. 1973 wurden die jugendlichen Arbeitsbrigaden als „Ejercito Juvenil del Trabajo“ (EJT) in die Revolutionären Streitkräfte integriert. Die erhöhte Produktivität diente dazu, Kuba nicht zu abhängig vom Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) werden zu lassen, dem Kuba ein Jahr zuvor beigetreten war. 2016 mobilisierte Raúl über 9.000 Reservisten, um die Hygienekampagne gegen die Aedes-Mücke zu unterstützen, die Dengue- und Zika-Fieber überträgt. Es gab keinen inländischen Zika-Infektionsfall.

Nach dem abgewehrten Angriff in der Schweinebucht hatte Raúl Militärexperten nach Vietnam geschickt, um von deren Erfahrungen zu lernen. Vietnam hatte sich mit einfachsten Mitteln von der französischen und britischen Kolonialherrschaft befreit und später auch die USA zermürbt. Zentral war die Strategie der „Armee des Volkes“ von Guerillakämpfer und General Vo Nguyen Giap. Nicht die regulären nordvietnamesischen Truppen, sondern mobile, lokale Milizen hatten 60-70 Prozent der US-Verluste in Vietnam bewirkt. Diese Strategie stimmte mit Camilo Cienfuegos Definition der Revolutionären Streitkräfte als „Volk in Uniform“ überein, und passte viel besser zu Kuba als die Strategie der gegenseitigen, nuklearen Abschreckung, die nur zwischen den USA und der UdSSR funktionierte.

Die vietnamesische „Wespennest-Konzeption“ von General Vo Nguyen Giap bedeutete, den Gegner durch viele kleine Stiche zu zermürben. Er beschrieb sie in seinem Buch „Volkskrieg, Volksarmee“ (PDF, englisch, ca. 740 kB). Daran orientiert, entwickelten Raúl und seine Militärstrategen Anfang der 1980er Jahre die kubanische „Militärdoktrin des allgemeinen Volkskrieges“. Wer Kuba angreift, muss mit einem allgemeinen Guerillakrieg rechnen. Die regulären Streitkräfte wurden verkleinert. Waffensysteme wurden auf Fahrzeuge installiert. Über Jahre wurde jeden letzten Samstag im Monat für den Ernstfall trainiert. Neben den regulären Revolutionären Streitkräften kämpfen ihnen zugeordnete Milizen sowie landesweit etwa 60.000 betriebliche Brigaden, denen Millionen Freiwillige angehören. Kuba ist in 1.400 Verteidigungszonen aufgeteilt, die unabhängig voneinander operieren können. Überall gibt es Tunnel und unterirdische Verstecke, die Schutzräume für Zivilisten bieten, wo aber auch Panzer, Artillerie, Waffen, Munition, Medikamente und Lebensmittel eingelagert sind. Lokale zivile Einheiten haben außerdem Fallen aufgestellt und Gruben ausgehoben.

Kuba hält Großmanöver ab – „Bastion“ genannt – zu denen Militär, Milizen und Bevölkerung mobilisiert werden. 1980, 1983, 1986, 2004, 2009, 2012, 2013 und 2016 wurde an diesen „Tagen der nationalen Verteidigung“ den USA gezeigt, dass Kuba ein einziges, riesiges Wespennest sei, das die gesamte Insel überziehe, wie Raúl zuletzt auch 2016 betonte.

„Bohnen statt Kanonen“

Schon im April 1990 hatte Raúl in einer dreitägigen Klausur mit Spitzen von Partei, Regierung und Streitkräften darüber beraten, wie man den drohenden Wegfall der osteuropäischen Handelspartner kompensieren könne. Erste Maßnahmen wären Einschränkungen des Öl- und Stromverbrauchs. Die Streitkräfte sollten 85 Prozent ihrer Lebensmittel selbst produzieren. Selbst Übungsmunition sollte streng rationiert werden. Der Militärapparat wurde verkleinert. Vom Militär betriebene Hotels wurden für den Tourismus freigegeben. Raúl sagte: „Die Verteidigung hängt von der Ökonomie ab“ und „Heute sind Bohnen wichtiger als Kanonen“.

Die vom Militär geführten Unternehmen in Tourismus, Transport, Bergbau, Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion entwickelten sich zum Rückgrat der kubanischen Wirtschaft in der Zeit der „Sonderperiode in Friedenszeiten“, die nach dem Ende des europäischen Sozialismus verkündet wurde. Obwohl in kürzester Zeit mit dem RGW 85 Prozent des kubanischen Außenhandels weggefallen waren, verhungerte niemand, blieben alle sozialen Leistungen erhalten, und wurde in der Landwirtschaft mangels Düngemitteln norgedrungen eine „ökologische Wende“ vollzogen. Man muss den kubanischen Wirtschaftsminister dieser Jahre nicht kennen. Es genügt zu wissen, wer der Verteidigungsminister war. Im Februar 1998 wurde Raúl der Titel und Orden „Held der Republik Kuba“ verliehen.

Da auch die Devisenknappheit an Kuba nagte, wurde 1993 der Dollarbesitz sowie Arbeit auf eigene Rechnung in etwa 200 Berufen erlaubt. So konnten sich die Menschen leichter selbst versorgen. Manche Staatsbetriebe wurden zu selbstständigen Kooperativen, die ihre Überschüsse auf freien Bauernmärkten verkaufen durften. Zumindest der Binnenmarkt konnte sich daraufhin erholen. Um an Devisen zu kommen, wurde auf Massentourismus gesetzt und Joint Ventures von Militär-Betrieben mit ausländischen Investoren wurden erlaubt.

Das Ende des „Ostblocks“ weckte in den USA und bei den Exilkubanern Hoffnungen. 1992 verschärften die Morgenluft schnuppernden USA mit dem „Torricelli-Gesetz“ die seit 1962 bestehende Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade gegen Kuba. CIA und andere Organisationen verstärkten ihre Propaganda-Bemühungen. Exilkubaner verübten Anschläge und Sabotage insbesondere gegen den Tourismus auf Kuba. Seit die USA am 17. März 1960 dem „Programm der Verdeckten Aktionen gegen Kuba“ zugestimmt hatten, wurden 3.478 Kubaner und Touristen auf Kuba Opfer von Angriffen und Anschlägen, die Exilkubaner und US-Organisationen ausgeführt hatten. Weitere 2.099 Opfer dieses Terrorismus trugen bleibende Behinderungen davon.

Am 5. März 1996 verabschiedete der US-Kongress das „Helms-Burton-Gesetz“, das die Anwendung der Blockade auf Drittländer erlaubt. Seitdem belegt die Exportkontrollbehörde des US-Finanzministeriums andere Staaten, Behörden und Unternehmen mit Strafgeldern und anderen Sanktionen, wenn sie mit Kuba Handel oder Bankgeschäfte betreiben. Obwohl die EU zunächst dagegen protestierte, schwenkte sie am 2. Dezember 1996 doch um und erklärte im „Gemeinsamen Standpunkt der EU“, dass die EU nur mit einem kapitalistischen Kuba normale Beziehungen unterhalten werde.

Viele schienen angesichts der Krise und Widrigkeiten den Kopf in den Sand stecken zu wollen. Raúl Castro war dafür verantwortlich, Partei und Staatsapparat während der „Sonderperiode“ bei der Stange zu halten. Im Juli 1994 organisierte Raúl drei Versammlungen für Funktionäre und Beamte. Auf ihnen analysierte er Missstände und forderte Disziplin. Aufgrund nachfolgender Untersuchungen wurden 30 Prozent der Beamten ausgetauscht. Der Bevölkerung sagte er, dass sie sich bei schweren Problemen wie fehlender Nahrung und Unterkünften direkt an die Streitkräfte wenden solle.

Bis zum Ende seiner Amtszeit als Verteidigungsminister 2008, als Präsident des Staats- und Ministerrates 2018, und als Erster Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas 2021 schärfte Raúl immer wieder allen seinen Zuhörern ein, schonungslos und konstruktiv alle Missstände zu kritisieren, und dass Korrekturen immer nötig seien, um den Sozialismus aufzubauen.

Kubas fünf sozialistische Verfassungen

Wir haben gerade einmal ein Verfassungsprovisorium, das Grundgesetz, aber Kuba hat in den Jahren 1976, 1978, 1992, 2002 und 2019 seine Verfassung landesweit diskutiert (alle Bürger ab 14 Jahren), überarbeitet und sie je neu in Referenden zur Entscheidung gestellt. Am 24. Februar 1976 verkündete Raúl das Inkrafttreten der ersten sozialistischen Verfassung Kubas (und der ersten in den beiden Amerikas). Besonderes Gewicht haben darin die sozialen Menschenrechte, u.a. das Recht auf Arbeit. Der Verfassungsentwurf war seit 1975 in Betrieben, Schulen, Universitäten, Militäreinrichtungen und Stadtteilzentren diskutiert worden. Daraufhin wurden 60 von 141 Artikeln stark abgeändert.

Die letzte Verfassungsreform von 2019 – auch sie von Raúl geleitet – hatten 8,9 Mio. Bürger in 133.000 Versammlungen diskutiert. 780.000 konkrete Änderungsvorschläge führten dazu, dass von 755 Absätzen des Verfassungsentwurfs nur 8 unverändert blieben. Beim Referendum mit einer Wahlbeteiligung von 84,4 Prozent stimmten 86,8 Prozent für die neue Verfassung, 9 Prozent stimmten dagegen, 2,5 Prozent gaben leere Stimmzettel ab, 1,6 Prozent waren ungültig.

Ein ähnlicher Diskussionsprozess hat auch das kubanische Arbeitsgesetzbuch geformt, das 1984 in Kraft trat. Deutschland hat bis heute keins (nur viele Gesetze und Verordnungen, die zwischen zwei oder mehr Buchdeckel gepresst werden). Die letzte Gesetzesreform von 2013 hatten drei Millionen Gewerkschaftsmitglieder in fast 70.000 Belegschaftsversammlungen ausdiskutiert.

Auch die „Leitlinien der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Partei und der Revolution“, die die wirtschaftlichen Probleme lösen helfen sollten, wurden 2010 in über 100.000 Betriebs-, Universitäts- und Stadtteil-Versammlungen diskutiert. 62 Prozent der Leitlinien wurden daraufhin geändert. Im April 2011 wurden die geänderten „Leitlinien“ vom IV. Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas angenommen.

Fidels Nachfolger

Nachdem Fidel Castro am 23. Juni 2001 nach einer dreistündigen Rede in praller Sonne einen leichten Schwindelanfall bekommen hatte, und, mehr noch, als er am 24. Oktober 2004 vor laufender Kamera stürzte, waren die Feinde der Revolution außer sich vor Freude. Für Fidel hingegen war es an der Zeit, die Führung der Revolution weiterzugeben. Am 31. Juli 2006 hatten Überarbeitung und Stress zu einem Darmbruch und inneren Blutungen geführt, die eine Operation nötig machten. Fidel übertrug all seine Ämter auf einen Kreis von sieben Personen, der von Raúl geleitet wurde.

Am 24. Februar 2008 wurde Raúl von der Nationalversammlung, dem kubanischen Parlament, zum Präsidenten des Staats- und Ministerrates gewählt. Damit war er zugleich Staats- und Regierungsoberhaupt, wie Fidel vor ihm. In seiner Antrittsrede legte er dem Parlament seine Ziele dar: Dezentralisierung der Verwaltung, Bürokratieabbau, ein Arbeitslohn, der zum Leben reiche, die Abschaffung der in der Sonderperiode eingeführten Doppelwährung (Peso Cubano und Peso Cubano Convertible), ein neues Steuersystem, das Kommunen Geld für Investitionen beschert, die Anwerbung von Auslandsinvestitionen und eine Reorganisation der Staatsfinanzen. Auch setzte Raúl wieder auf die „Weisheit der Vielen“, um gemeinsam eine sozialistische Wirtschaft und Gesellschaft zu entwickeln:

„Es gibt keinen Grund, Meinungsverschiedenheiten in einer Gesellschaft wie unserer zu fürchten, in der aufgrund ihres Wesens keine antagonistischen Widersprüche bestehen, denn sie basiert nicht auf sozialen Klassen. Aus dem intensiven Austausch abweichender Meinungen entspringen die besten Lösungen.“

Im Januar 2014 weihten Raúl und die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff den größten Containerhafen der Karibik bei Mariel ein, dem auch eine Sonderwirtschaftszone angehört, in der heute u.a. auch das deutsche Unternehmen Otto Bock eine Prothesen-Fabrik betreibt. Im März 2014 wurde ein Gesetz über Auslandsinvestitionen verabschiedet. Seit Oktober 2013 konnte der Erlass von Auslandsschulden u.a. mit Mexiko, Russland, China und Japan verhandelt werden. Mit einem Pariser Club von 14 Gläubigerstaaten einigte man sich Ende 2015 auf einen Kompromiss aus Schuldenerlass und Schuldendienst, der die Kreditwürdigkeit Kubas verbesserte.

Raúls Außenpolitik

Außenpolitisch begann Raúls Präsidentschaft mit einem Paukenschlag, der von Fidel und dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez vorbereitet worden war: Auf dem Lateinamerika-Gipfel in Brasilien im Dezember 2008 vereinbarten 33 amerikanische Länder – alle außer den USA und Kanada – die Gründung einer Alternative zur US-dominierten „Organisation Amerikanischer Staaten“ (OAS), um die Isolation Kubas – 1962 aus der OAS ausgeschlossen – zu beenden und die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Integration Mittel- und Südamerikas voranzubringen. Die Deutsche Welle nannte es „Kubas Triumph“.

Diese „Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten“ (CELAC) wurde 2011 gegründet. 2014 gelang erneut ein „diplomatischer Coup“, als der CELAC-Gipfel unter kubanischem Vorsitz in Havanna stattfand und Raúl den amtierenden OAS-Generalsekretär José Miguel Insulza und den UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon für ein Dreiergespräch gewinnen konnte.

Die Bedeutung der CELAC schwankt, je nachdem, wie viele links- oder rechtsgerichtete Regierungen in den beiden Amerikas gerade herrschen. Brasilien trat unter dem faschistischen Präsidenten Jair Bolsonaro 2020 aus der CELAC aus. Aktuell spielt die CELAC eine wichtige logistische Rolle bei der Verteilung von Covid-19-Impfstoffen. Das CELAC-China-Forum wird an Bedeutung gewinnen, je mehr China seine „Neue Seidenstraße“ auch nach Mittel- und Südamerika ausbaut.

Ebenfalls zu Beginn von Raúls Amtszeit als Staatspräsident besuchte Chinas Staatspräsident Hu Jintao Kuba, gefolgt vom russischen Präsidenten Dmitri Medwedjew, die beide von großen Wirtschaftsdelegationen begleitet wurden. Wie Papst Johannes Paul II. 1998, so besuchten auch Papst Benedikt XVI. 2012 und Papst Franziskus 2015 Kuba. Um nicht abgehängt zu werden, rang sich die EU 2014 zu Gesprächen mit Kuba durch, um die Beziehungen zu verbessern.

In der EU setzte sich besonders Francois Hollande für Dialog und Kooperation mit Kuba ein. 2016 wurde ein Kooperationsabkommen zwischen der EU und Kuba geschlossen und der „Gemeinsame Standpunkt der EU“ von 1996 aufgehoben. Für Raúl ein Erfolg, aber kein Grund, nicht mehr wachsam zu sein, da der von der EU als Fernziel gewünschte Systemwandel nun wohl mit anderen Mitteln weiterverfolgt würde. Konservative in der EU hofften dabei auf Donald Trump. Auch 2021 sahen sie wieder Aufwind für mögliche Sanktionen, als es auf Kuba zu von den USA unterstützten Protesten wegen der schlechten Versorgungslage – verursacht durch die von Trump verschärfte US-Blockade und durch die Covid-Pandemie – kam.

Raúl war wesentlich daran beteiligt, dass sich erstmals seit fast eintausend Jahren die Oberhäupter der römisch-katholischen und der russisch-orthodoxen Kirche trafen und miteinander sprachen. Am 12. Februar 2016 kamen – vermittelt und in Anwesenheit von Raúl Castro – Papst Franziskus und Patriarch Kyrill am Flughafen von Havanna zu einem ersten Gespräch zusammen.

Raúl war auch der wesentliche Vermittler und Schirmherr der Friedensgespräche zwischen der kolumbianischen Regierung unter Präsident Juan Manuel Santos und den Rebellen der FARC unter Comandante Timoleon Jimenez, die sich am 23. Juni 2016 in Havanna die Hände reichten. Bei der Unterzeichnung des Friedensvertrages am 26. September 2016 in Cartagena danken beide ausdrücklich dem kubanischen Staatspräsidenten. Ihnen wurde der Friedensnobelpreis für 2016 verliehen. Raúl Castro hätte ihn – als Dritter im Bunde – wohl auch verdient. Leider hat sich Santos‘ rechtsgerichteter Nachfolger, Iván Duque, nicht an den Friedensvertrag gehalten.

Frieden ist in unserer Welt kein natürlicher Grundzustand, sondern Ergebnis eines schweren Kampfes gegen macht- und geldgierige Individuen, die eine kleine, jedoch meistens dominante gesellschaftliche Klasse (mitsamt Helferkreis aus Managern und Politikern) bilden. Kuba ist eine der wenigen Ausnahmen von dieser Regel, kämpft weiter gegen die imperialistische Einmischung des globalen Nordens (Nordamerika und Europa) und entwickelt unbeirrt und Schritt für Schritt seinen humanistischen Sozialismus.

Teil 2 folgt irgendwann: Von Obama über Trump bis heute

Literatur

Volker Hermsdorf: Raúl Castro. Revolutionär und Staatsmann, Verlag Wiljo Heinen: Berlin und Böklund, 2016.