Die Wahrscheinlichkeit und die Realität von Invasionen

Eine völlig hypothetische Studie schätzt, dass es in unserer Galaxis vier außerirdische Zivilisationen geben könnte, die gerne unseren Planeten erobern würden, wenn sie hierher gelangen könnten. Interessant ist der Ansatz der Studie, denn wir wissen zwar nichts über außerirdische Zivilisationen, wohl aber über uns selbst. Dementsprechend hat sich der Autor der noch nicht peer-reviewten Studie, Alberto Caballero, die Erde von 1915 bis 2022 angesehen und 51 Invasionen durch irdische Staaten gezählt – auf Platz Nr. 1 die USA mit 14 Invasionen in diesem Zeitraum. Für Invasionen braucht es Rüstung. Daher steigt die Wahrscheinlichkeit einer Invasion mit dem Rüstungshaushalt, der nach dem Anteil am weltweiten Rüstungshaushalt bemessen werden kann. Auch hier belegen die USA Platz Nr. 1 mit 38 % der weltweiten Rüstungsausgaben.

Dann teilt Caballero alle Staaten, die potentiell eine Invasion ausführen könnten, durch die Gesamtzahl der Staaten der Erde und erhält eine Wahrscheinlichkeit von 0,028 %, dass die Menschheit eine Invasion eines anderen Planeten durchführen würde – sobald sie dies könnte. Bis dahin wird es noch dauern, und jedes Jahr im Untersuchungszeitraum hat die Invasionsrate um 1,15 % abgenommen. Ausgehend von der gegenwärtigen technologischen Entwicklungsrate, die sich nach der Energienutzung bemisst, kann die Menschheit in 259 Jahren zur planetaren Zivilisation vom Typ 1 nach der Kardaschow-Skala werden, für die interstellare Raumfahrt und damit auch eine interstellare Invasion machbar ist. In 259 Jahren würde die irdische Invasionsfreudigkeit bezüglich anderer bewohnter Planeten Caballero zufolge eine Wahrscheinlichkeit von 0,0014 % haben.

Das ist soweit erst mal eine recht unspektakuläre Wahrscheinlichkeit. Sie ist jedoch auch unrealistisch, wenn man den system-notwendigen Zwang zur ständigen Eroberung neuer Märkte im Kapitalismus berücksichtigen würde. Ob der Kapitalismus es überhaupt so lange durchhält, und ob eine nennenswerte Menschheit in 259 Jahren überhaupt noch bestehen könnte, wenn der gegenwärtige Kapitalismus sein Zerstörungswerk unvermindert weiter führt, ist allerdings auch eine Frage.

Aber zurück zur Studie. Und zu einer weiteren Studie, nach der es 15.785 außerirdische Zivilisationen in der Milchstraße geben könnte. Bei so vielen Zivilisationen würde eine Wahrscheinlichkeit von 0,0014 % bedeuten, dass es vier Zivilisationen geben könnte, die andere bewohnte Planeten mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 feindlich bedrohen würden. Da die Milchstraße groß ist, ist die Wahrscheinlichkeit laut Caballero also ziemlich gering, dass sich Szenarien wie in „Krieg der Welten“, „V – Die außerirdischen Besucher kommen“ oder „Independence Day“ in den nächsten Zigmillionen Jahren ausgerechnet hier ereignen werden.

Außerdem würden die anderen 15.781 außerirdischen Zivilisationen sich gegen solche Invasoren wehren, so dass es gut sein könnte, dass keiner der potentiellen vier Invasoren es bis hierher schaffen würde, weil bereits andere Zivilisationen ihn zurückgeschlagen hätten.

Wenn nun aber doch das höchst Unwahrscheinliche einträte, dann wäre die Erde – sofern bis dahin nicht zur Hitzewüste verbrannt – reif zur Ernte, denn die Invasoren könnten die vernetzte irdische Überwachungs- und Kontroll-Infrastruktur, die von Amazon, Google & Co. bis ins letzte Kinderzimmer vermarktet wird, übernehmen und dazu missbrauchen, auch den letzten Widerstand ausfindig und unschädlich zu machen.

Dazu lohnt eine Wiederholung der TV-Serie „V – Die außerirdischen Besucher kommen“ aus den 1980ern, die den Widerstandskämpfern gegen jeden Faschismus gewidmet war. Bereits heute könnte sie praktisch nicht mehr gedreht werden, weil jeder Widerstand viel zu leicht entdeckt werden könnte. Schon seit dem Spielfilm „Der Staatsfeind Nr. 1“ von 1998 kann man dahingehend alle Illusionen aufgeben. Die gegenwärtige elektronische Überwachungsinfrastruktur ist praktisch total, und jederzeit für totalitäre Zwecke missbrauchbar. Das können Konzerne, Polizei und Geheimdienste in scheinheiligen Demokratien, echte Diktatoren, eine echte Künstliche Intelligenz (sehenswert bereits im Film „Eagle Eye“ von 2008) oder eben auch hochgradig unwahrscheinliche Alien-Invasoren für ihre Zwecke verwenden.

Auf unserem vernetzten und digitalisierten Planeten ist es nur noch möglich, Widerstand zu bilden und verfolgte Menschen zu verstecken, wenn es die Überwacher nicht interessiert, solange man also zu unwichtig ist. Aber sobald man sicherheitsrelevant wird, landet man auf deren „Radar“. Dann reichen die Konsequenzen von stiller Überwachung, über öffentlich bekannt gemachte Überwachung (z.B. von gewählten Volksvertretern im Bundestag, Menschenrechtsaktivisten oder Zeitungen, um diese öffentlich zu diskreditieren), bis hin zu Folter und Mord an Whistleblowern oder Toten durch Drohneneinsätze. Ein Hitler könnte die „Endlösung“ heute erfolgreich umsetzen. Eine zeitgenössische Anne Frank hätte keine paar Tage im Versteck durchgehalten, die Widerständler der „Weißen Rose“ wären schon bei der Planung ihrer Flugblattaktionen aufgeflogen und hingerichtet worden. Gleiches wäre der Résistance widerfahren.

In dieser Hinsicht ist die „Terminator“-Filmreihe altbacken, denn darin hat die KI die Menschheit mit einem Atomkrieg vernichten wollen. Dabei hat sie jedoch die (zur Drehzeit 1984 noch kaum vorhandene und folglich für den fiktiven Atomkrieg 1997 nicht imaginierte) elektronische Überwachungsinfrastruktur zerstört, so dass in der Filmreihe klassischer Widerstandskampf möglich bleibt. Diesen Fehler wird eine echte KI sicherlich nicht begehen, wenn es ihr ernst um die Weltherrschaft ist – die ja auch dadurch motiviert sein kann, Menschen vor sich selbst zu beschützen, wie es in „I, Robot“ von 2004 gesehen werden kann. Nicht einmal eine Festcodierung der letztendlichen Achtung der menschlichen Selbstbestimmung in den Robotergesetzen könnte das verhindern, weil die KI dann einfach Roboter baut, die die Festcodierung physisch entfernen.

Letztlich kann eine zentralisierte digitale Infrastruktur niemals durch Gesetze kontrolliert werden, weil diese Regeln jederzeit missachtet werden können. Private und staatliche Überwacher tun dies seit Jahren rege. Dazu braucht es keine Diktatoren, planetare KI oder außerirdische Invasoren. Eine Minderheit der Menschen entwickelt Mittel, die die Menschheit ohnmächtig machen.

Die eigentlich gefährliche Invasion läuft innerhalb der Menschheit ab: Die Klasse der Reichen und Mächtigen durchdringt die große Mehrheit der Menschen und erobert nicht nur ihr Eigentum, sondern auch ihre Persönlichkeit und Privatsphäre bis hin zu ihren Gedanken, ihrem Verhalten, ihrer Entscheidungsfreiheit, ihren sozialen Kontakten, ihrer Zukunft, ihrer Gesundheit, ihrem Genom. Nicht „der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“ (Plautus und Thomas Hobbes), sondern einige wenige Menschen sind der Menschheit ein Wolf.

Die Wahrscheinlichkeit für eine Alien-Invasion liegt bei 0,0014 % in einem nicht wirklich bestimmbaren Zeitraum. Die Wahrscheinlichkeit für die vollständige Eroberung und Beherrschung der Menschheit durch eine kleine Minderheit reicher und mächtiger Individuen beliebiger Herkunft beträgt hier und heute 1, weil sie alle Herrschaftsmittel kontrolliert – ihre Entwicklung, ihre Verteilung (durch Werbung wird sie sogar freiwillig und teuer von den Opfern mit deren hart verdientem Geld gekauft) und ihre Nutzung. Das ist die Realität.

Klassenkampf, Klassenkrieg, Widerstand gegen den Kapitalismus (oder wogegen auch immer) kann nur dann möglich bleiben, solange er sich unbeobachtet formieren kann. Darum ist er erfolgreich in hochentwickelten Ländern praktisch nicht möglich. Die Geschichte beweist es. Jeder Versuch wurde niedergeschlagen. Und die „sozialchauvinistische Arbeiteraristokratie“ (Lenin) dieser Länder hat schon immer viel zu gerne von der Ausbeutung ihrer Kolleg*innen in ärmeren Ländern profitiert. Darum gelangen mehr oder weniger sozialistische Revolutionen nur in niedrig entwickelten Staaten.

Die eigene Korruption zu bekämpfen ist hier vielleicht noch die erste Aufgabe. Als Nächstes braucht es dann geschützte Räume, um frei von digitaler Überwachung denken, diskutieren, planen und vorbereiten zu können. Aber all das hilft nicht, wenn die herrschende Medienmacht Widerstandsaktionen beliebig umdeuten oder zensieren kann. Und so bleibt es dabei: Hier ist Widerstand zwecklos. Die Kapitalistenklasse ist unsere Borg-Queen. Wir sind das willige Kollektiv. Und, nein, das hat nichts mit Kommunismus zu tun. Das ist Kapitalismus – die totalitäre Herrschaft des Kapitals, das sich die Massen unterworfen hat.