Cancel culture

Da die Gerechtigkeitsbedürfnisse von Minderheiten im öffentlichen Diskurs immer wieder abgewiesen und mundtot gemacht wurden und werden, befindet sich das Aufbegehren von unten seit ein paar Jahren in einer neuen, jedoch mitunter auch extremen Phase, die von etablierten Männern und Frauen als „cancel culture“ bezeichnet und abgelehnt wird. Heute wurde darüber in der 3sat-Sendereihe „Sternstunde Philosophie“ gesprochen. Das war aber sicherlich keine Sternstunde der Philosophie. Oder es zeigt, wie weit der Stern der Kultur schon gesunken ist.

Eine moralische Diktatur kapitalistischer Eliten?

Der Literaturkritiker und Redakteur der pseudoliberalen ZEIT, Ijoma Mangold, übte sich in exzessivem mansplaining, sah eine elitäre Verschwörung in der „cancel culture“, die an US-amerikanischen Ostküsten-Elite-Unis entstanden sei, die längst nicht mehr Opfer, sondern zum Täter geworden sei und jederzeit berufliche und soziale Existenzen auslöschen könne, sinnierte darüber, dass mehr Robustheit in der Auseinandersetzung vielleicht die Lösung sein könne (also für eine Verhärtung gegen widerstreitende Meinungen und mithin eine Eskalation diskursiver Spaltung ist), und resümierte befriedigt, dass die „cancel culture“ inzwischen bereits ihren Zenit überschritten hätte.

Leider blieb unerwähnt, dass neue Gedanken an Universitäten soziale Kraft entfalten können, jedoch deswegen keineswegs auf etablierte Macht zurückzuführen sind. Das war bei der Reformation so, als über 90 Prozent der Studierenden in deutschen Landen über die neuen, reformatorischen Gedanken Martin Luthers diskutierten. Gegen die damals allmächtige römisch-katholische Kirche. Das war bei der 1968er-Bewegung so, als über 30 Prozent der Studierenden aus unterprivilegierten Familien und solidarisch denkende Unterstützer aus privilegierten Haushalten „den Muff von tausend Jahren“ lüften wollten. Gegen das konservative Establishment. Und wenn heute in den USA 15 von 16 Studierenden der Humanwissenschaften fortschrittlich denken, reden und fordern, dann tun sie dies gegen die etablierten gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, die bis heute rassistische und sexistische Selektion betreiben. – Wünschenswert wäre auch der Kampf gegen soziale Selektion, aber der wird leider von zu viel kapitalistischer Ideologie und antikommunistischer Propaganda am Boden gehalten.

Wenn sich an Universitäten „woke“ und gendergerechte Bestrebungen bündeln, muss dahinter also keineswegs eine heimlich lenkende Macht stehen, sondern wäre es ein weiteres Beispiel dafür, dass kritisch denkende Menschen an Universitäten ein Umfeld vorfinden, in dem sie fortschrittliche Gedanken mit Anderen teilen und mächtig werden lassen können. Jede Bewegung von unten profitiert davon, wenn gebildete Menschen ihre Bedürfnisse und Forderungen auf akademischem Niveau in die Öffentlichkeit tragen und wenn diese Menschen als künftige Tätige in gehobenen Positionen ins Establishment hinein wirken (auch wenn der „Marsch durch die Institutionen“ korrumpieren und bloß Teilerfolge bringen mag).

Totgeschwiegene Realitäten

Die Soziologin und Genderforscherin Franziska Schutzbach, wenn sie denn mal zu Wort kam, versuchte die Machtverhältnisse historisch einzuordnen. Empörung gegen eine vermeintliche „cancel culture“ ist nicht neu. Die Rechte und Ansprüche von Unterdrückten und von Minderheiten wurden schon immer als unzulässig abgetan, und ihre bloße Existenz mit Empörung verachtet. Rhetorische Kraftmeierei gegen alles Schwache und vermeintlich Unnatürliche ist eine klassisch rechte Taktik.

Weil die Befriedigung von rechtlichen und sozialen Bedürfnissen rassistisch und sexistisch unterdrückter Menschen bisher immer wieder verhindert oder ignoriert wurde, bleibe der Gang an die Öffentlichkeit die letzte Möglichkeit, Gerechtigkeit einzufordern und herzustellen.

Dass dabei in Einzelfällen Menschen digital an den Pranger gestellt wurden, sei bedauerlich. Aber wenn Adolf Muschg nach einem unpassenden Auschwitz-Vergleich diesen Vergleich noch rechtfertigt oder Joanne K. Rowling die Existenz von nicht binären Geschlechtern beharrlich leugnet, anstatt selbstkritisch eine differenziertere Position zu suchen, dann seien sie offenbar für manche gesellschaftliche Diskussionen keine geeigneten Autoritäten.

Letztlich haben wir bisher immer in einer konservativen „cancel culture“ gelebt, die unerwünschte Realitäten ausgeblendet und unterdrückt hat. Das bisschen linke „cancel culture“ heutzutage verpasst nur denen, die sich bis heute an dieser althergebrachten Unkultur des Totschweigens beteiligen, seinerseits einen Maulkorb und stellt sie an den sozialen Pranger. Nur so können die Unterdrückten sprechen und Gerechtigkeit einfordern, ohne gleich wieder von den Etablierten übertönt und zum Verstummen gebracht zu werden.

Mangel an Differenzierung und Fokussierung

Insgesamt, auch wenn das in der Sendung nicht gut zum Ausdruck kam, mangelt es allgemein an differenzierter Diskussionskultur. Es gibt viele Meinungen. Es gibt viel Ignoranz gegenüber den legitimen Bedürfnissen anderer Menschen. Wir müssen lernen, wie wir diskutieren, wie wir bloße Meinungen und berechtigte Forderungen unterscheiden, wie wir Empörung artikulieren und kanalisieren, damit im Ergebnis nicht soziale Spaltung zunimmt, sondern stattdessen konstruktiv eine gerechtere Gesellschaft entwickelt wird. Der Streit um die sogenannte oder womöglich angebliche „cancel culture“ ist eine Untermenge unserer Unfähigkeit zu differenzierter und konstruktiver Streitkultur. Die Einführung von „Gewaltfreier Kommunikation“ an Schulen und in Betrieben wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Auch zu bedenken wäre, dass mancher Unwille, die Stimme von Unterdrückten zu hören, damit zu tun haben mag, dass man selbst unterdrückt und auch nicht gehört wird. Dann sollte man seinen Zorn jedoch nicht gegen andere Unterdrückte richten, sondern gegen diejenigen strukturellen Verhältnisse, die tatsächlich für die Unterdrückung ursächlich sind. Und manchmal ist es tatsächlich so, dass man zugleich Unterdrücker und Unterdrückter ist, z.B. als ausgebeuteter Arbeiter, der zu Hause von der unentgeltlichen Arbeitskraft seiner von ihm finanziell und damit existentiell abhängigen Frau profitiert. Und womöglich haben beide Parteien gewählt, die gegen ihre Interessen handeln und glauben sie an die Markt- und Geschlechterrollen-Ideologien, die sie beide einzwängen und ausquetschen. Statt gegeneinander zu kämpfen, sollten sie sich gemeinsam gegen die Verhältnisse auflehnen und eine Welt einfordern, in der alle frei und gleichberechtigt miteinander leben können. Nur so können beide gewinnen.

Weitere Gefahren

Leider sind die „woken“ Wortmeldungen und Einforderungen von Gerechtigkeit ihrerseits auf das Körperliche beschränkt, sei es die Hautfarbe oder eine der etwa 4.000 klinisch dokumentierten Geschlechtervarianten. Das ist, streng genommen, kein linker Ansatz. Das Biologische, auch wenn es nur die Anzahl von Farbpigmenten in Hautzellen oder öffentlich meist verhüllte Geschlechtsmerkmale zwischen den Beinen sind, sollte kein Thema linker Politikbestrebungen sein müssen. Das Soziale ist das eigentliche linke Anliegen. Aber leider sind die Formen von Unterdrückung so vielfältig, dass sogar auch im biologischen Bereich Befreiung notwendig ist. Alle Beteiligten müssen sich aber darauf gefasst machen: Wenn people of color und nicht-binäre Persönlichkeiten Gleichberechtigung erfahren und ihrerseits in der gesellschaftlichen Hierarchie aufsteigen, dann werden sie ihrerseits zu Unterdrückern, gegen die von links gekämpft werden muss.

Vorsicht ist außerdem geboten vor den gesellschaftlich schädlichen Spins der sogenannten „Sozialen Medien“, deren Algorithmen mit der gezielten Auswahl von Negativ-Nachrichten soziale Spaltung fördern. Sie unterminieren nicht nur soziale Bewegungen, sondern zerstören auch den gesellschaftlichen Diskurs, weil sie extreme Tendenzen verstärken. Dadurch eskaliert Streit und verhärten sich Fronten. Die in Wirklichkeit asozialen Medien – so sind sie faktisch programmiert! – müssen verboten werden. Nur quelloffene, inhaltsneutrale soziale Netzwerke dürften erlaubt sein.

Die vermeintliche Steuerung fortschrittlicher Bewegungen durch finstere kapitalistische Mächte, die selbst Mangold walten sah (nur, weil es ihm gerade ins Konzept passte), sollte differenziert und nüchtern betrachtet werden. Anti-Rassismus, Geschlechtergerechtigkeit oder auch der Klima-Aktivismus sind längst überfällige Sichtweisen, deren Zeit einfach reif ist. Sie sind viel zu lange unterdrückt, verdrängt und verschwiegen worden, so dass auch manchem Ultrareichen klar ist, dass man besser auf diese Züge aufspringt, anstatt sich von ihnen überrollen zu lassen. Greenwashing als Marketingtaktik oder George Soros Open Society Foundation als Initiator von demokratischen Farben-Revolutionen sind bekannte Beispiele dafür. Sie benutzen populäre – und eben auch populär gewordene – Ideen, um wirtschaftliche Ziele zu erreichen, also z.B. um ökologisch bewusste Kunden zu gewinnen oder Staaten mit großem öffentlichem Sektor zu zerstören und deren Volkswirtschaften mit westlichem Kapital zu privatisieren. Soziale Bewegungen müssen aufpassen, dass sie sich nicht vereinnahmen lassen.

Kontraproduktiv ist es aber auch, wenn an Universitäten Seminare über Aristoteles, Platon, Kant und Mozart gestrichen werden, weil ihr Werk auf eine weiße Herrschaftsideologie reduziert wird. Damit wird mehr verloren als gewonnen. Gerade an den Universitäten muss differenzierte Kritik und Würdigung entwickelt und eingeübt werden. Wo, wenn nicht dort? Einseitigkeit kann nicht universal sein und hat nichts an einer Institution zu suchen, die sich Universität nennt. Das kulturelle Erbe muss kritisch beurteilt und um andere Perspektiven bereichert werden. Es ist keine Lösung, das eigene Erbe wegzuwerfen und unkritisch andere Kulturen zu übernehmen. Das wäre auch nicht links, sondern nur dumm.